Polar Vantage V Review: Vom Werkzeug zum Lifestyle
Mit der Polar Vantage V beschreitet Polar neue Wege. Weg vom reinen Werkzeug, hin zu etwas Lifestyle-Smartwatch. Verrät die finnische Marke ihre Tradition?
Polar ist legendär. Das sei mal vorausgeschickt, denn auch wenn das wie ein Lob klingt, so ist es sowohl Prestige wie auch Bürde für den finnischen Konzern. Seit 1977 hat sich Polar einen Namen gemacht als Hersteller von Sportgeräten, die mindestens den Puls von Sportlern misst. Ohne Kabel, ohne grosse Gerätschaften. Das war anno dazumal revolutionär.
Lange hatte Polar das Feld für sich. Doch mit dem Aufstieg von Smartwatches oder allgemein smarter Technologie sieht sich die Grande Dame der Sportuhren neuer Konkurrenz gegenüber. Seit fast 20 Jahren muss sich Polar mit zwei starken Gegnern auseinandersetzen: Garmin ist seit 2003 mit Smartwatches auf dem Markt. Suunto mit dem funktionellen Vorgänger der heutigen Smartwatches seit 2004. Dann sind da noch die ganzen Wadenbeisser, kleinere Marken, die ähnliche Versprechen wie Polar machen, aber stark auf ein Lifestyle-Segment ausgelegt sind – Samsung, Huawei, Fitbit und ihre Konkurrenten.
Kurz: Der Markt ist umkämpfter denn je. Trotz der Tatsache, dass Polar als de facto Standard und Benchmark für Sportuhren angesehen wird, darf sich die Marke nicht ausruhen.
Diese Entwicklung hat über die funktional einwandfreie aber im modernen Verständnis hässliche M600 zur Polar Vantage geführt.
Mit der Vantage-Serie kommt die breite Popularisierung des polareigenen Ökosystems, Polar Flow genannt. Dort werden alle Daten aus allen Polar-Geräten aggregiert und für dich und zweifelsohne auch für Polar analysiert. Market Research geht nie einfacher und vollständiger als wenn du die Daten auswertest, die dir deine User freiwillig ohne zu fragen geben. Ganz neu aber ist die Stossrichtung Polars. Denn mit der Vantage-Serie, da gehört nebst der V auch noch die Polar Vantage M dazu, begeht Polar neue Wege.
Bisher sahen Polar-Uhren so aus.
Die Vantages aber kommen rund daher.
Das ist nur der Anfang in Punkto Neuerungen und die mit Abstand konsequenzloseste. Denn die Vantage ist leicht, bequem und fällt nicht auf. Irgendwie unspektakulär, hardwareseitig. Dennoch: Die Vantages haben es in sich.
Neu etwas Lifestyle
Die wohl für Sportler grösste Neuerung ist die Tatsache, dass Polar mit der Vantage-Serie auf Smartwatch macht und nicht nur auf Werkzeug für Sportler. Du kannst dank neuem Software Update Benachrichtigungen deiner Messaging Apps auf die Uhr spielen.
Ich sag jetzt was Kontroverses: Ich will das nicht.
Betrifft nicht nur Polar, aber ganz ehrlich: Da werde ich schon den ganzen Tag mit irgendwelchen Mails und Messages zugemüllt, selbst wenn ich sowohl auf Smartphones wie auch PC extrem restriktiv mit Benachrichtigungen bin. Mach dir mal den Gedanken: Wie oft unterbricht dich WhatsApp oder – noch schlimmer – Outlook bei irgendetwas, das viel nützlicher wäre? Outlook Notifications sind mittlerweile aus. WhatsApp und Messenger-Dienste schlagen nur dann an, wenn ausgewählte Kontakte versuchen, mich zu erreichen. Lasst mich schreiben, Menschen.
Noch schlimmer ist das beim Sport. Wenn ich klettere, dann will ich nicht noch wissen, dass ein Newsletter reingekommen ist und Outlook zu dumm ist, den rauszufiltern. Benachrichtigungen unseres Planungstools gehen mir auf dem Velo am Arsch vorbei. Da habe ich besseres zu tun. Ausgleich, Entspannung, Abschalten. Sowas halt.
Technologisch aber funktionieren die Benachrichtigungen tadellos. Auf dem Hauptbildschirm nach oben swipen und da sind sie. Wenn du Apps wie Spotify fernsteuern willst, dann ist die Polar Vantage nichts für dich, denn so smartwatchig ist die Vantage nicht. Noch nicht, vielleicht.
Die Crux mit den Notifications
Dass ich die Notifications aber im Opt-In-Verfahren aktivieren muss und die Uhr eigentlich Uhr mit Sportfunktion ist, macht die Uhr nur sympathischer. Ich mag die Ruhe am Handgelenk sehr. Und die Tatsache, dass ich nicht alle Notifications einzeln ausschalten muss. Einzig bei längeren Velotouren am Wochenende mach ich mir die Mühe und schalte die Notifications ein.
Es zeigt sich, dass das Notification System noch nicht ganz ausgereift ist. Ich erhalte in der Regel nur Notifications von ausgesuchten Kontakten zu definierten Zeiten auf meinem Smartphone. Diese Einstellungen werden von der Polar Vantage nicht übernommen. Schlimmer noch, sobald ich die Notifications aktiviert habe, macht die Uhr etwas ganz Seltsames.
Notifications von einzelnen Apps werden Opt-Out. Im seltsamsten Opt-Out-Verfahren, das ich je gesehen habe. Offenbar kann die Vantage keine Liste der Apps vom Phone abfragen, in der alle notification-berechtigten Apps festgehalten sind. Stattdessen baut sich die App diese Liste selbst. Das heisst, dass zuerst alle Notifications – WhatsApp, Signal, Outlook, Kalender, Spotify, Google Docs und so weiter – durchgelassen werden. Erst nachdem die Uhr eine Notification erhalten hat, kann ich in der Polar Flow App die Notification blockieren, denn erst dann taucht die App in der Liste auf. Granulare Berechtigungen von wegen Ruhezeiten oder Favourite Contacts kann Polar Flow noch nicht.
Puls passt
Polar ist legendär. So redundant dieses Statement ist – kam oben schon, ich weiss –, so wichtig ist es für das Verständnis der Marke Polar. Denn wenn Polar eines können muss, dann Sportfunktionen. Notifications und möglicherweise Spotify und so sind ja schön und gut, aber wenn die Pulsmessung fehlerhafte Daten auswirft, dann kann Polar den Laden zumachen. Dann hat die Marke sich selbst verraten und sollte ganz tief in sich gehen. Rundes Gehäuse? Okay. WhatsApp? Easy, von mir aus. Aber Sport, da liegt die Kernkompetenz.
Der Pulsmesser am Handgelenk ist so eine kritische Sache. Historisch gesehen. Denn die Technologie ist relativ neu. Wie mit jeder neuen Technologie sind beim Launch der optischen Pulsmesser einige Dinge zusammengekommen, die dann zum Verruf des Systems geführt haben.
- Die Industrie hat etwas ganz neu erfunden oder zum ersten Mal in diese Form gebracht
- Das Marketing erklärt das Ding zur Wiederkunft von Technologie-Jesus. Wie hast du es je geschafft, ohne zu leben?
- Die Käufer glauben das, kaufen und am Ende haben sie irgendwie nichts davon.
Der Grund für das Dritte: Die Technologie ist meist noch nicht ausgereift. Oder wenn ausgereift, dann nicht perfektioniert. Klar, anno dazumal hat die Uhr den Puls gemessen. Aber die Fähigkeit, den Puls mit einem LED, das durch deine Haut scheint und deine Blutgefässe durchleuchtet und so den Puls feststellt, zu messen, bedeutet nicht, dass die Messwerte verlässlich sind. Oder waren. Denn genau das war das Problem, als Samsung mit der zweiten Generation ihrer Smartwatch auf den Markt ging. Klar, die Technologie hat funktioniert. Aber die Werte waren irgendwo zwischen Herzstillstand und Herzrasen zu beliebigen Zeiten.
Polar hingegen hat stets auf den Brustgurt gesetzt, zum Punkt an dem Polar und Brustgurt kaum voneinander trennbar waren: Du kannst keinen Puls messen ohne Brustgurt und ohne Uhr keine Daten aufzeichnen. Wenn jetzt Polar vom Brustgurt wegkommt, dann hat die finnische Marke zwei Probleme:
- Die Messungen müssen stimmen, denn seit 1977 stimmen sie
- Wie rechtfertigt sich der Brustgurt, wenn die Handgelenksmessungen stimmen?
Die gute Nachricht: Die Messungen am Handgelenk stimmen. Du musst die Uhr schon recht krass verrenken oder grob anders tragen, damit der Sensor Werte auswirft, die nicht stimmen können. Ansonsten reden wir von einer Abweichung von plusminus fünf Herzschlägen in der Minute. Für Profisportler mag das zu viel sein, für Amateure und ambitionierte Amateure dürfte plusminus fünf ausreichen.
Die schlechte Nachricht: Sowohl Brustgurt wie auch OH-1-Armbandmessgerät sind überflüssig. Zumindest, wenn du gerne Wände hochkletterst, läufst oder auf dem Velo tourst. Du kannst zwar mit dem Brustgurt einen orthostatischen Test machen, der dir sagt, wie erholt du bist, aber ich wage zu behaupten, dass im Notfall der Armbandsensor das auch hinkriegen würde. Selbst, wenn der Brustgurt technologisch anders funktioniert: Er misst deinen Herzschlag mit Elektroden und nicht mit LEDs.
Das OH1-Armband? Nur während einer kurzen Testphase benutzt, Sinn nicht eingesehen, war unbequem. An den Brustgurt gewöhne ich mich schnell, aber das Armband hat mich bei egal welcher Übung genervt. Das ist mir dahingehend eine Warnung wert, da Uhr und Brustgurt im Bundle erhältlich sind, der OH1 aber separat gekauft werden muss. Bevor du also fast 100 Stutz liegen lässt, probier mal aus, ob du mit einem Band um den Oberarm überhaupt angenehm Sport treiben kannst. Der optische Sensor am Arm liefert dir dieselben Daten wie der am Handgelenk und der von der Brust. Plusminus fünf Schläge.
Training fertig… was nun?
Wenn du etwas ambitionierter und interessierter Sport treibst, dann ist ein datengetriebenes oder datenbeeinflusstes Training naheliegend und interessant. Auch die Daten aus dem orthostatischen Test geben dir zumindest ein Indiz dafür, was du vom Training des Tages erwarten kannst. Ferner kannst du langfristig einen Trend auslesen.
Die Daten werden von deiner Polar-Uhr ausgelesen und via Smartphone-App (Android oder Apple iOS oder Kabelverbindung mit dem PC oder Mac und installiertem Synchronisations-Tool an Polar Flow übermittelt. Dort werden die Daten analysiert und in allerlei Diagrammen aufbereitet, damit du oder dein Trainer einen Überblick über deinen Erfolg und deine Schwächen sehen
Aber vorsicht: Viele der Daten sind für Laien nur schwer eindeutig deutbar. Nur weil dein Herz irgendwo irgendwas macht, heisst das nicht zwingend, dass irgendwas falsch ist. Bevor du also radikal datengetriebenes Workout betreibst, red mit einem Trainer darüber. Denn dazu sind sie da. Eine Smartwatch oder das Internet wird dir nie ohne vorherige Konversation mit Arzt oder Trainer verlässlichen medizinischen oder sportlichen Rat geben können.
Ein Beispiel: In meinem Training sind bewusst Übungen und Sequenzen eingebaut, die meine Herzfrequenz in den roten Bereich, also die anaerobe Zone, drücken. Da fängt es schon an: Anders als in der allgemeinen Welt ist rot nicht gleich schlecht. Nicht zwingend. Kann schlecht sein, muss aber nicht. Dass ich kurz im roten Bereich arbeiten soll, das hat mein Coach so festgelegt, mir gesagt und auch festgehalten, dass das so zu sein hat. Ein gewisses anaerobisches Training hat auch seine Vorzüge. Die Daten meiner anaeroben Zeiten schaut er sich dann nach einer Weile an und passt mein Workout entsprechend an.
Selbst arbeite ich nur wenig mit den Daten. Etwas Kalorienzählen, mit der Polar Balance mein Gewicht messen und den Schlaf aufzeichnen. Das ist es eigentlich schon. Praktisch ist Flow deswegen, weil ich die Daten exportieren kann. Mein Trainer ist also nicht abhängig von irgendwelchen Apps oder Niederschriften. Ein Workout kann im CSV-Format heruntergeladen und verschickt werden. Zudem werden Workouts auf Wunsch in den Google-Kalender eingespeist.
Ich mag die Vantage sehr. Sie leistet gute Dienste, erlaubt viele Freiheiten und der Akku muss auch nur alle paar Tage mal kurz aufgeladen werden. Apropos aufladen: Um die Vantage zu laden, brauchst du ein separates Kabel. Wenn du das nicht dabei hast und dir der Akku ausgeht, dann hast du ein Problem. Daher rate ich zur Investition in ein zweites Kabel für unterwegs. Dann hast du sicher ein Fallback zuhause.
Wenn du Lifestyle und so Klickibunti-Haitaitai suchst, dann bist du bei der Polar Vantage definitiv falsch. Die Vantage ist ein Werkzeug. Sie macht dir keine Illusionen mit Notifications und Musikfernsteuerung. Sie ist dazu da, um dir Daten über dein Training auszuwerfen, diese zu analysieren und dir Ratschläge zu geben. Der Rest ist alles extra. Dass sie die Zeit anzeigt ist mehr oder weniger Zufall. Und das ist gut so.
Kurz: Polar ist legendär und bleibt das auch.
Journalist. Autor. Hacker. Ich bin Geschichtenerzähler und suche Grenzen, Geheimnisse und Tabus. Ich dokumentiere die Welt, schwarz auf weiss. Nicht, weil ich kann, sondern weil ich nicht anders kann.