Rocket Science – die Firma, die einen Kamin ruhig stellt
Die Firma Rocket Science nimmt sich Lärm- und Akustikherausforderungen an. Das Team erzählt mir von ihren Projekten, wie sie sich gefunden haben und was unter Active Noise Control zu verstehen ist.
Zu Besuch im Büro von Rocket Science bietet sich mir ein Anblick voller Kabel, Kisten und Computer. In den vielen Regalen des Büros im Zürcher Binz-Quartier stehen blaue, rote und grüne Kistchen randvoll mit Elektronikteilen, die auf ihren Einsatz warten. Daneben sind zwei Whiteboards platziert. Sie sind mit algebraischen Formeln vollgekritzelt. Der Boden ist übersät mit Kabelsträngen, die ich als potenzielle Stolperfallen wahrnehme. An den Kabeln hängen verschiedene Prototypen, an denen das Team arbeitet. Das ist das Zuhause von Rocket Science.
Manuel Isenegger, der sich auf Psychoakustik spezialisiert hat, versucht mir das letzte Projekt des Unternehmens zu erklären. Er wird aber immer wieder von den sirenenartigen Tönen eines alten Signal-Generators unterbrochen. Philippe Niquille, CEO von Rocket Science, führt nämlich gerade Tom, unserem Fotograf, mitten im Büro das Klangspektrum des Generators in zu hoher Lautstärke vor.
Endlich gibt der Lautsprecher, an dem der Generator hängt, Ruhe. Philippe gesellt sich zu uns und beginnt zu erzählen. Rocket Science gibt’s schon seit knapp zehn Jahren. Er und Manuel sind seit drei Jahren dabei. Das Unternehmen fungiert als Boutique für Akustik und aktive Lärm- sowie Vibrationskontrolle. Das heisst, das Team um Philippe und Manuel bietet verschiedene Lösungen für die unterschiedlichsten Lärm- oder Schwingungsprobleme an. Das wichtigste dabei ist für sie die pragmatische Herangehensweise und das Mitdenken mit den Kunden. Das sei in diesem Bereich bei fast jedem Projekt erforderlich, erklärt mir Manuel.
«Hupte wie eine überdimensionale Klarinette»
Im Februar, erzählt mir Philippe, haben er und sein Team ein Grossprojekt abgeschlossen. Rocket Science musste sich um den Schornstein eines thermischen Kraftwerkes kümmern. Das Problem war so belanglos wie nervtötend: Je nach Tageszeit und Temperatur wurde der Kamin der Anlage zu einem Schiffshorn: Verschiedene Luftströme waren verantwortlich, dass der Schornstein wie eine überdimensionale Klarinette klang, erklärt Philippe.
Für die Anwohner ist der Zustand sehr unangenehm und das Kraftwerk musste den Betrieb einschränken. Die ganze Anlage konnte nicht mehr in derselben Kapazität betrieben werden. Das bedeutete eine deutliche Einbusse an Einnahmen für die Betreiber. Deshalb beauftragten sie die Experten von Rocket Science. Diese nahmen sich der hochkomplexen Anlage an, bei der aus der Hitze Dampf gewonnen wird. Der Dampf wird in Energie umgewandelt und schliesslich dutzende Male gefiltert, sodass die Abluft in die Umwelt gelassen werden kann – was durch den Schornstein geschieht. Dass der Kamin wie eine riesige Klarinette klingen könnte, war bei der Planung der Anlage aufgrund der hohen Komplexität schwer absehbar.
Die Lärmreduzierung konnte Rocket Science in mehreren Episoden erreichen, erklärt mir Philippe Niquille. Zuerst liessen Philippe und sein Team ein Mikrofon in den Schornstein herunter, um den Lärm zu vermessen. Das funktionierte nicht. Wegen der hohen Hitze schmolz das Mikrofon davon. Das Experten-Team musste sich etwas Anderes überlegen. In der nächsten Projekt-Episode schossen sie mit einer Schreckschusspistole in den Turm, um zu sehen, welche der Lärmfrequenzen lange nachhallen – ein Testverfahren, das bei anderen Projekten auch schon unter Polizeibegleitung erfolgte, erzählt Philippe grinsend. Beim letzten Versuch haute die zurückhaltendste Mitarbeiterin aus dem Team noch mit einem Vorschlaghammer an die Wände des Kamins, um ein akustisches Feedback zu erhalten.
Wenn’s im Büro pfeift
Die nächste Episode war der Nachbau des Kamins. In einem 1:12-Modell hat das Team den Schornstein nachgebaut, um die Gegebenheiten besser zu verstehen. Zwei Monate hat es im Büro aus dem Mini-Schornstein gepfiffen, erzählt Philippe. Weil der nachgebaute Kamin kleiner ist als in der Realität, mussten sie mit einer höheren Ton-Frequenz arbeiten.
Schlussendlich dauerte es acht Monate, bis es das Team geschafft hat, mit geschickt angeordneten Lautsprechern mit komplexen Gegenwellen den Kamin so zu beschallen, dass die Töne sich im Schallfeld aufheben und das Hupen reduziert wird. Das Verfahren nennt sich Active Noise Control und wird vereinfacht auch in Noise Cancelling Kopfhörern verwendet. Um die Lautsprecher anzubringen, hat das Team grosse Löcher in den Schornstein bohren lassen. Seither haben die Anwohner Ruhe und das Kraftwerk kann wieder auf voller Kapazität laufen.
Das Hotel mit Club
Über viele der Projekte von Rocket Science darf mir Philippe leider nichts erzählen. Denn die Kunden wollen nicht genannt werden. «Insbesondere bei Industrieprojekten möchte sich nicht jeder in die Karten blicken lassen», erklärt er mir. Ein weiteres Projekt, wovon Philippe mir erzählen kann, ist das Riders Hotel in Laax.
Das Hotel ist ein Doppelnutzungsfall: Es ist Hotel und Club in einem Gebäude. Im Gegensatz zum Schornstein sind die Betreiber aber bei diesem Problem schon vor dem Bau zu Rocket Science gekommen. Denn es ist klar, dass der Club, der mit einem Schalldruck von etwa 100 dB(A) Musik spielt, nicht bei den Gästen, die im oberen Stock schlafen wollen, zu hören sein soll. Deshalb wurde schon während den Bauarbeiten die akustische Trennung des Clubs geplant.
Geschehen ist dies mit einem speziellen Betonboden, der das Ober- vom Untergeschoss abtrennt. Der Boden reduziert vor allem die tiefen Frequenzen – also die Bässe – die sonst bei vielen Gebäuden nachwummern.
Später installiert das Team von Rocket Science noch einen virtuellen Vorhang: Der Eingang des Clubs war ein Schwachpunkt, bei dem der tieffrequente Lärm immer durchdrang. Mit der passiven bauakustischen Massnahme war dieser Lärm nicht zu bewältigen. Deshalb muss eine aktive Lösung her. Mit aktiver Lärmschutztechnologie und DSP (Digital Signal Processing) konnte das Team mit einem speziell angefertigten Gerät nochmals eine Reduktion um 20 Dezibel erreichen.
Wie findet sich so ein Team?
Die Projekte, von denen Philippe und Manuel erzählen, sind alle komplett verschieden. Verschieden sind auch die Teammitglieder, die bei Rocket Science arbeiten. Von einem Elektrotechniker, einem Programmierer, zwei Doktoren in Physik, einem Biologen und einem Finanzwirtschaftler ist alles vertreten. Mit diesem Wissen können sie besonders effizient Projekte angehen, erklärt mir Philippe. Der wissenschaftliche Hintergrund hilft ihnen, die Probleme zu verstehen und sie so herunterzubrechen, um an die Grenzen des physikalisch Machbaren gehen zu können.
Ich möchte wissen, wie Philippe und Manuel zu Rocket Science gefunden haben. Die beiden überlegen kurz, und erzählen mir von einem gemeinsamen Projekt, das sie zusammengeführt hat. Es ging darum, wie Helikopterlärm für die Insassen reduziert werden kann. Philippe kommt ursprünglich aus der Luftfahrt, wo er sich mit Grosshelikoptern auseinander gesetzt hat. Rocket Science gab’s da schon etwa sieben Jahre. Gegründet hat die Firma Christian Frick. Philippe beschreibt ihn als sehr neugierigen Mensch. Christian ist Naturwissenschaftler und arbeitete früher viel als Tontechniker. Dabei hat er gemerkt, dass der Sound an vielen Konzerten nicht gut klingt, oder dort klingt, wo er eigentlich nicht klingen soll. Deshalb hat er begonnen, zu experimentieren und nebenbei die Firma gegründet.
Weitere Projekte von Rocket Science findest du unter diesem Link. Darunter ist etwa die Zusammenarbeit mit der Band Rammstein, die Simulation der zu lauten Langstrasse Zürichs oder das Festival, das nun nicht mehr die ganze Nachbarschaft beschallt.
Die Zusammenarbeit mit digitec
Es war nicht mein erster Besuch bei Rocket Science. Das erste Mal traf ich Philippe und sein Team für die Geschichte der AirPods Pro. Schon da ist klar, dass wir die Zusammenarbeit unbedingt aufrecht erhalten wollen. Doch dann kommt Corona und alles verzögert sich.
Ein ANC-Kopfhörer funktioniert ebenfalls mit komplexen Gegenwellen. Deshalb wird das Experten-Team von Rocket Science für digitec Kopfhörer testen und vermessen. Momentan liegen sieben Noise Cancelling Kopfhörer bei Rocket Science auf dem Tisch. Fast zwei Monate lang haben Manuel, Philippe und das Team bis jetzt die Kopfhörer getestet und vermessen. Ihre Ergebnisse werde ich in zwei Tagen publizieren. Daneben wollen die Audio-Nerds herausfinden, wie die aktive Lärmunterdrückung den Klang der Musik beeinflusst und ob bei Brillenträger das Noise Cancelling eines Kopfhörers beeinflusst wird.
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Experimentieren und Neues entdecken gehört zu meinen Leidenschaften. Manchmal läuft dabei etwas nicht wie es soll und im schlimmsten Fall geht etwas kaputt. Ansonsten bin ich seriensüchtig und kann deshalb nicht mehr auf Netflix verzichten. Im Sommer findet man mich aber draussen an der Sonne – am See oder an einem Musikfestival.