«Secret Invasion»: Marvel nimmt sich wieder ernst
Serienkritik

«Secret Invasion»: Marvel nimmt sich wieder ernst

Luca Fontana
14.6.2023

Marvel erzählt selten reife Geschichten mit starken Charakteren. Doch die ersten beiden Folgen von «Secret Invasion» sind anders: hart, düster und voller Intrigen und Verrat – eine mutig-frische Brise im Marvel-Universum.

Eines vorweg: In diesem Review gibt’s keine Spoiler. Du liest nur Infos, die aus den bereits veröffentlichten Trailern bekannt sind.


Zwei Folgen «Secret Invasion». Mehr gab mir Disney nicht. Und trotzdem fällt es mir schwer, von diesen beiden vielversprechenden Folgen nicht auf die restlichen vier zu schliessen. Nicht das Prädikat «Andor-von-Star-Wars» auspacken. Aber dieser Anfang – er ist verdammt gut.

Das liegt an der düsteren Machart und der ernsten Story. Sie ist fesselnd, charakterorientiert und fast unvorhersehbar erzählt. Dass die Serie dabei nur lose dem Comic-Event «Secret Invasion» aus dem Jahr 2007 folgt – bestenfalls –, stört mich keine Sekunde lang. Dafür ist die Alternative zu gut. Zu ausgereift. Zu aktuell.

Vielleicht sogar ein Gamechanger fürs zuletzt strauchelnde Marvel Cinematic Universe.

Darum geht’s in «Secret Invasion»

Einst lebten die reptilienartigen Skrulls auf ihrem Heimatplaneten Skrullos. Aber als das Kree-Imperium verlangte, ihre Welt der Herrschaft der Kree zu unterwerfen, widersetzten sich die stolzen Skrulls – und bezahlten mit der Zerstörung ihrer Heimatwelt. Nur eine Handvoll überlebte den Genozid.

Als sie vor 30 Jahren auf der Erde strandeten, freundeten sie sich mit Nick Fury (Samuel L. Jackson) an. Fury versprach ihnen, bei der Suche nach einem neuen Heimatplaneten zu helfen, wenn sie sich im Gegenzug bedeckt hielten. Seitdem kooperierten sie. Friedlich. Es sei denn… Was, wenn es die Erde ist, auf die es die Skrulls insgeheim abgesehen haben? Wer sagt überhaupt, dass nur eine Handvoll überlebt hat? Was, wenn es in Wahrheit Hunderte sind? Tausende?

Millionen?!

Niemand kann es wissen. Nicht mal Nick Fury. Denn die Skrulls könnten bereits jahrzehnte lang ihre gestaltwandlerischen Fähigkeiten genutzt haben, um die Erde zu infiltrieren. Sich unter die Bevölkerung zu mischen. Menschen, ja selbst Superhelden, denen wir ein Leben lang vertraut haben, könnten in Wahrheit längst durch Doppelgänger ersetzt worden sein. Uns einlullend. In falsche Sicherheit wiegend. Um dann, wenn wir’s am wenigsten erwarten, könnten sie endlich ihr von langer Hand geplantes Vorhaben in die Tat umsetzen: die geheime Invasion der Erde.

Von «Mr. Robot» zu «Secret Invasion»

Nein, «Secret Invasion» fühlt sich nie wie typisches Marvel-Popcorn-Kino an. Angefangen mit ihrer finsteren, ständig paranoiden Atmosphäre und den cleveren Kameraeinstellungen. Dazu das sogenannte «cold opening» – ein Stilmittel, bei dem Zuschauende direkt und ohne Einführung in die Handlung einer Serie geworfen werden. Das gibt’s eigentlich nie bei Marvel.

«Stellen Sie sich eine Welt vor, in der man keiner Information trauen kann», sagt ein Charakter gleich zu Beginn. «Nicht besonders schwer, oder?»

Mir läuft es kalt den Rücken runter. «Secret Invasion» stellt von Anfang an klar, dass die Serie auch als Kommentar zur Informationsgesellschaft verstanden werden will. Als Weckruf. Denn die Welt, in der die Medien das eine sagen, das Internet was ganz anderes, und die Institutionen, denen wir vertrauen, ohne zögern das Blaue vom Himmel zu lügen, wenn es in ihre Agenda passt – die ist längst nicht mehr Fiktion.

Wem können wir noch trauen? Wer ist nicht bereits durch einen Skrull ersetzt worden?
Wem können wir noch trauen? Wer ist nicht bereits durch einen Skrull ersetzt worden?
Quelle: Disney / Marvel Studios

Woher diese neugefundene Reife Marvels kommt? Wohl von Showrunner Kyle Bradstreet. Bradstreet ist längst kein Unbekannter mehr. Nicht seit seinem Wahnsinnswerk aus dem Jahr 2015 – «Mr. Robot». Schon damals bannte uns der US-amerikanische Autor mit einer intelligenten Geschichte über korrupte Systeme und fehlgeleitete Informationstechnologien vor den TV-Bildschirmen. Im Mittelpunkt stand damals ein psychisch labiler Hacker: Grossartig von einem noch unbekannten Rami Malek gespielt.

Heute, in «Secret Invasion», kopiert sich Bradstreet am Rande der Ungeniertheit selbst, nimmt eine ähnliche Prämisse wie in «Mr. Robot», tauscht seinen Hauptcharakter aber durch den gebrochenen Nick Fury und ersetzt das korrupte System mit den infiltrierenden Skrulls. Voilà: Fertig ist der überraschend stark politisch orientierte Thriller voller unvorhersehbarer Wendungen, der es irgendwie schafft, sich doch noch ein wenig nach Marvel anzufühlen. So ganz entfernt.

Der neue Nick Fury

Begeistert von der Serie bin ich auch, weil es Jahre her ist – genau genommen neun – als das Marvel-Universum mit «Captain America: The Winter Soldier» eine ähnlich starke Geschichte erzählte. Tatsächlich sind die Vibes oft dieselben. Grimmig, kalt und trostlos. Vor allem, weil sich «Secret Invasion» kein Deut um das oftmals absurde Multiversum-Gedöns der anderen Filme kümmert. Stattdessen stellt die Serie ihren Fokus auf ihre Charaktere. Auf Nick Fury, vor allem. Das sind gute Nachrichten, Freunde.

Nick Fury galt im Marvel-Universum bislang als unüberwindbare Festung der Entschlossenheit. Als Institution. Geheimniskrämer, Mentor und stiller Held. Damit ist Schluss. Fury ist gebrochen. Sein Kampf gegen Thanos zeigte ihm seine Grenzen auf. Und während die Menschen auf der Erde immer noch das Trauma zu überwinden versuchen, das der verrückte Titan verursacht hatte, zog sich Fury ins Weltall zurück. Zu S.A.B.E.R., wo er an einer planetaren Verteidigungsanlage gearbeitet haben soll.

Und wo er vor seinen Dämonen flüchten wollte.

Nick Fury (Samuel L. Jackson) befindet sich in einer Sinnkrise.
Nick Fury (Samuel L. Jackson) befindet sich in einer Sinnkrise.
Quelle: Disney / Marvel Studios

Auf der Erde aber überschlagen sich die Ereignisse mit für Marvel-Verhältnisse überraschend bildlicher Gewalt, die nur gerade so in eine FSK-12-Altersfreigabe fallen dürfte. Und Fury wird gebraucht. Gebrochen oder nicht. Fury ist schliesslich Fury. Schauspieler Samuel L. Jackson schafft es locker, die Hin- und Hergerissenheit seines Charakters rüberzubringen, der einerseits dienstmüde ist, es andererseits nicht lassen kann, zu helfen, wenn er gebraucht wird.

Und gerade dann, wenn ich meine, alles gesehen zu haben, packt Samuel L. Jackson während einer Verhör-Szene seinen ikonischen Jules aus «Pulp Fiction» aus – samt verspielten Sadismus. Nick stammt schliesslich aus der Spionagewelt. Hat lange vor der Gründung der «Avengers» schon verdeckte Operationen abgezogen, die moralisch fragwürdig waren, die aber die Welt zusammenhielten. Kein Zweifel: Dieser Nick Fury ist anders als jener, den wir aus den «Avengers»-Filmen kennen. Gut so. Nichts wäre langweiliger, als einen Nebencharakter zur Hauptfigur seiner Serie zu machen, ohne neue Seiten an ihm kennenlernen zu dürfen.

Schliesslich geht’s genau darum: Um Charaktere. Um deren Motivationen. Hoffnungen. Und Abgründe. Es sind nie die Dinge, die passieren, die die Handlung vorantreiben, wie es bei Marvel ansonsten üblich ist. Es sind die Figuren, die gezwungen sind, im Klima der ständigen Paranoia ihre Beziehungen zueinander zu hinterfragen. Etwa jene zwischen Nick Fury und Talos (Ben Mendelsohn), Freunde, aber mit Geheimnissen. Ständig sind sie gezwungen, Entscheidungen zu treffen. Entscheidungen, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Das jüngere Publikum, das einfach nur nach seichter Unterhaltung und Action lechzt, könnte sich davon vor den Kopf gestossen fühlen. Das ältere, reifere Publikum nicht. Denn zum ersten Mal fühlt sich Marvel tatsächlich erwachsen an.

Fazit: Im Schatten des Verrats

«Was dem MCU fehlt, ist eine durchdachte Marschrichtung», schrieb ich vor ein paar Monaten, «ein Konzept, das mehr auf Qualität statt Quantität setzt. Eines, in dem die Charaktere, nicht die Marke, ins Zentrum der Geschichten rücken. Und vor allem eines, das nicht auf den billigen Humor setzt, über den nur Kinder am Samstagmorgen beim Schauen von Disney Channel lachen.»

Und weiter:

«Was Marvel also braucht, ist das, was es erst kürzlich für ‘Andor’ im Star-Wars-Universum brauchte: Mut. Mut zu einer reifen Geschichte. Einer mit echten Auswirkungen und Konsequenzen. Und zwar so geschrieben, dass sie nicht die Intelligenz des Durchschnittszuschauers beleidigt.»

Ich will den Tag ja nicht vor dem Abend loben, aber...
Ich will den Tag ja nicht vor dem Abend loben, aber...
Quelle: Disney / Marvel Studios

Es scheint, als hätte ich bei Marvel Seelenverwandte, die genauso denken. In den ersten zwei Folgen nimmt sich «Secret Invasion» nämlich erschreckend genau alles, was ich damals bemängelt hatte, zu Herzen. Denn «Secret Invasion» ist genau das: eine reife, charakterorientierte Geschichte mit echten Konsequenzen.

Was gibt’s da noch zu sagen?


«Secret Invasion» startet am 21. Juni auf Disney+ mit der ersten Folge. Danach folgt eine Folge pro Woche. Es sind sechs Folgen à ca. 1 Stunde geplant.

Titelfoto: Disney / Marvel Studios

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Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.» 


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