Ratgeber

Vater der Videospiele: Das Leben von Ralph Baer

Kevin Hofer
8.3.2022

«Pong» gilt als erstes Videospiel. Doch die Idee war geklaut. Erfunden hat das Videospiel und auch die Spielkonsole Ralph Baer, der heute seinen 100. Geburtstag feiern würde.

Das Jahr 1969. Auf einem alten Röhrenfernseher bewegt sich ein Viereck schnell von links nach rechts. Es wird offenbar von zwei weiteren, grösseren Vierecken hin und her gespickt. Dazu ertönt eine zittrige Stimme: «Hier sind wir also, am Ping-Pong-Spielen, wenn wir eigentlich arbeiten sollten.» Die Stimme gehört Ralph Baer. Was er da gerade zeigt, soll eine ganze Industrie begründen. Es ist die Geburtsstunde der Videospiele, wie wir sie heute kennen.

Frühe Jahre und Flucht

Ralph Baer wird am 8. März 1922 in Pirmasens, Deutschland geboren. Er zeigt früh ein Talent fürs Konstruieren, spielt mit Baukästen. Doch seine grosse Leidenschaft gilt in der Kindheit dem Lesen und Schreiben. Er erzählt gerne Geschichten und erschafft so seine eigenen Welten.

Seine schulische Laufbahn wird mit 14 Jahren jäh unterbrochen: Als Angehöriger einer jüdischen Familie muss er die Schule verlassen. 1938 flüchtet die Familie vor den Nazis in die USA – genauer: nach New York City. Da ist Baer 16 Jahre alt.

Hier arbeitet er in einer Fabrik. Er weiss, dass das nicht seine Berufung ist. Nach ein paar Monaten sieht er jemanden in der U-Bahn ein Heft lesen. Ein Inserat darin weckt sein Interesse: «Verdiene viel Geld in der Radio- und Fernsehtechnik» steht da. Baer fühlt sich angesprochen und lässt sich per Fernkurs darin ausbilden.

Einen weiteren Schlüsselmoment erlebt Baer während seiner Zeit in der Fabrik: Er macht seine erste Erfindung. Eine seiner Arbeiten besteht darin, mit einem Hebel ein Loch durch eine Unterlage zu stanzen. Immer nur ein Stück auf einmal. Er baut ein Gerät, das es ihm erlaubt, gleichzeitig durch zehn Unterlagen Löcher zu machen. Seine Lust zu Erfinden ist geweckt.

Nach dem Abschluss als Radio- und Fernsehtechniker kündigt Baer seine Stelle in der Fabrik und arbeitet ein paar Jahre in seinem neuen Beruf. Er übernimmt den Vor-Ort-Service oder auch den Transport der Geräte zur Reparatur in den Laden. Dass er dabei alles zu Fuss, Bus oder Bahn erledigt, stört den bescheidenen Teenager nicht. Er liebt seine Arbeit.

Ralph Baer als Fernsehtechniker in den 1930ern.
Ralph Baer als Fernsehtechniker in den 1930ern.
Quelle: Youtube Screenshot

Vom Krieg eingeholt

Trotz der Flucht aus Deutschland wird Baer doch noch in den Krieg verwickelt und 1943 von der US-Armee eingezogen. Er wird in Grossbritannien stationiert. Hier hat er die Idee, dass er als Deutscher den Alliierten helfen kann, deutsche Soldaten und deren Waffen zu erkennen und zu verstehen. Sein Vorschlag stösst auf offene Ohren und er wird Ausbildner. Nebenbei bringt er sich selbst Algebra bei.

Nach dem Krieg will Baer einen Bachelor in Fernsehtechnik absolvieren. Das ist schwierig, weil er zum letzten Mal als 14-jähriger eine Schule besucht hat. Er hat keinen offiziellen Schulabschluss. Dank eines Aufnahmetests, den Baer mit Bravour besteht, kann er dennoch sein Studium in Chicago machen.

1955 findet er eine Arbeitsstelle bei Sanders Associates, einem Militärzulieferer. Bei Sanders arbeitet sich Baer konstant hoch. Er entwirft unter anderem Abhörgeräte und Radarsysteme. Sein Erfindergeist kann sich endlich austoben, 1966 ist er leitender Ingenieur.

Die erste Spielekonsole

An einem Tag im August 1966 sitzt Baer gedankenversunken an einer Bushaltestelle. Als Fernsehtechniker weiss er, dass viele TV-Geräte in den Wohnzimmern der US-Amerikaner stehen. Bislang lässt sich mit ihnen aber nur fernsehen. Da hat er eine Idee: Wie wäre es, wenn sich auf den Fernsehern auch Spiele spielen liessen? Am besten gemeinsam, als Familie.

Baer erzählt seinem Arbeitgeber von seiner Idee. Zunächst sind seine Vorgesetzten nicht begeistert. Da er aber sonst gute Arbeit leistet und für sein Projekt die nötige Begeisterung mitbringt, lassen sie ihn gewähren – obwohl Sanders eigentlich ein Rüstungsunternehmen ist. Gemeinsam mit seinem Kollegen William Harrison macht er sich an die Entwicklung der ersten Spielekonsole.

Die Brown Bow.
Die Brown Bow.
Quelle: Wikipedia

Nach etwas mehr als einem Jahr haben die beiden einen Prototyp fertig: die Brown Box. Auf ihr spielen Harrison und Baer im eingangs gezeigten Video Ping Pong. Die Box projiziert die Vierecke auf den Fernseher und zwei der Vierecke lassen sich mit Controllern steuern. Damit verfügt die Brown Box über alle elementaren Funktionen, die auch heutige Konsolen haben.

Nicht nur das Ping-Pong-Videospiel erfinden die beiden für die Brown Box. Sie erdenken und machen weitere Spiele. Wie ein Jagdspiel, wo ein Viereck ein anderes jagen muss – mit einer Lightgun, die sie ganz nebenbei auch noch erfinden. Gemein ist den Spielen eines: Man kann sie zumindest zu zweit spielen. Das ist Baer ganz wichtig. Einzelspieler Games machen für ihn keinen Sinn. Spielen soll eine Aktivität der Familie sein.

Baer meldet die Erfindung zum Patent an und macht sich auf die Suche nach jemandem, der seine und Harrisons Erfindung vertreibt. Nach langer Suche bringt im September 1972 die Firma Magnavox die Konsole heraus. Der Name: Odyssey.

Mit der Odyssey an sich haben Baer und Harrison nichts mehr zu tun. Magnavox hat die Lizenz für das Produkt von Sanders erworben und kann sie nach eigenem Willen gestalten. In drei Jahren werden 350 000 Stück der Odyssey verkauft.

Baer gegen Bushnell und spätere Jahre

Ralph Baer und William Harrison haben also nicht nur die Videospielkonsole erfunden, sondern auch die Videospiele an sich. Dennoch wird heute meist jemand anderes damit in Verbindung gebracht: Nolan Bushnell. Bushnell ist zu jener Zeit Chef der Firma Atari. Die hat im Juni 1972 riesigen Erfolg mit einem Münzautomaten-Spiel: «Pong».

Pong erinnert stark an das Ping-Pong-Spiel, das Baer 1967 erfunden hat. Tatsächlich hat Bushnell Anfang 1972 an einer Präsentation der Odyssey teilgenommen und die Idee von Ping Pong kurzerhand in «Pong» abgekupfert.

Ein Rechtsstreit zwischen Atari und Magnavox beginnt. Magnavox gewinnt und deshalb muss Atari Lizenzgebühren an den Hersteller der Odyssey entrichten. Dennoch wird in der öffentlichen Wahrnehmung für viele Jahre Bushnell als Erfinder der Videospiele wahrgenommen.

Das setzt Baer zu. Er zieht sich zurück, kündigt seinen Job bei Sanders und erfindet in seinem Keller Neues. Vor allem elektrische Kinderspiele. Über 150 Patente meldet der Erfinder bis zu seinem Tod im Jahr 2014 an. Sein grösster Erfolg: Simon / Senso. Ein Spielzeug, bei dem sich die Spielenden Ton- und Farbfolgen merken und korrekt wiedergeben müssen.

Ralph Baer in seinem Keller mit der Brown Box.
Ralph Baer in seinem Keller mit der Brown Box.
Quelle: Wikipedia

Späte Anerkennung

2006 wird Baers Bedeutung für die Videospielbranchen endlich anerkannt. Er erhält für die Erfindung der Videospiele die National Medal of Technology. Die höchste US-Auszeichnung im Bereich Wissenschaft und Technik. Eine Genugtuung für Baer, der 2006 dem Stern sagt:

Ich habe nie die Hand aufgehalten, das war dumm. Ich habe jedoch etwas Wichtigeres bekommen: die Freiheit, das zu tun, das ich liebe.
Baer erhält von Georg Bush Jr. die National Medal of Technology.
Baer erhält von Georg Bush Jr. die National Medal of Technology.
Quelle: Wikipedia

Dieser Text basiert auf dieser Doku von VGXTV und diesem Interview von Noir Magnétique.

24 Personen gefällt dieser Artikel


User Avatar
User Avatar

Technologie und Gesellschaft faszinieren mich. Die beiden zu kombinieren und aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten, ist meine Leidenschaft.

Diese Beiträge könnten dich auch interessieren

  • Meinung

    Wieso immer das Rad neu erfinden? Ich will mehr Recycling in Games!

    von Domagoj Belancic

  • Meinung

    Diese sieben Games würde ich am liebsten vergessen und noch einmal spielen

    von Domagoj Belancic

  • Hintergrund

    Einfach den Stecker ziehen: Die Geschichte von Konrad Zuse

    von Kevin Hofer

2 Kommentare

Avatar
later