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von Michael Restin
«Pluto» mischt «Blade Runner» mit «Monster», «Seven» und «The Boys». Der Mix funktioniert als Manga perfekt. Aber nicht nur deshalb hat der kommende Netflix-Anime das Potenzial zum Hit.
Den 26. Oktober solltest du dir als Anime-Fan dick im Kalender anstreichen. Mit «Pluto» erscheint dann auf Netflix ein Sci-Fi-Anime auf Basis des gleichnamigen Mangas. Dieser stammt aus der Feder von Naoki Urasawa, dem Autor von «Monster», über den ich kürzlich geschrieben habe. Der Autor ist aber nur ein Grund, wieso «Pluto» das Potenzial zum Hit hat.
Für «Pluto» lässt sich Urasawa von einem grossen, wenn nicht gar dem grössten Manga-Werk inspirieren: «Astro Boy». Dieses erschien zwischen 1952 und 1968. Gezeichnet hat den Manga Osamu Tezuka, der den Übernamen «Gott des Manga» trägt. In Japan hiess das Werk ursprünglich «Eisenarm Atom».
Eisenarm Atom ist ein nuklear betriebener Roboter, der im Zuge seiner Erlebnisse immer mehr über Menschlichkeit lernt. Als Held rettet er immer wieder die Menschheit. Der Manga ist auch eine Reaktion Tezukas auf den verheerenden Zweiten Weltkrieg und den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki. Mit Atom hält er der nuklearen Zerstörungskraft etwas Positives entgegen: Hoffnung und Aufbruch. Atom ist denn auch ein legendärer Charakter wie Superman.
Ausgangslage für «Pluto» ist der Handlungsbogen «Der grösste Roboter auf Erden» von «Astro Boy». In diesem baut ein Sultan einen Roboter mit dem Namen Pluto. Er soll König aller Roboter werden, weshalb ihn der Sultan losschickt, um die sieben stärksten Roboter der Welt zu vernichten. Nebst dieser Ausgangslage übernimmt Urasawa auch die meisten Charaktere und viele Schauplätze aus der Vorlage.
Die Nachkommen von Tezuka sind, was dessen Werk anbetrifft, strikt. Der Sohn von Tezuka bestand darauf, dass Urasawa eine eigene Interpretation der Geschichte mit seinem Stil macht. Eine simple Hommage oder Kopie war nicht erwünscht. Urasawa hatte die Idee, «Astro Boy» in eine Detektivgeschichte umzuwandeln. Der Hauptcharakter sollte nicht mehr Atom sein, sondern ein Inspektor. Die Idee stiess auf Zustimmung.
In «Pluto» hält eine Mordserie die Welt in Atem. Alle Fälle haben die Visitenkarte des Täters oder der Täterin gemeinsam: Hörner an den Schädeln der Opfer. Fehlende forensische Spuren lassen die Vermutung zu, dass es sich um einen Roboter handelt. Das sollte jedoch unmöglich sein, da Roboter so programmiert sind, dass sie Menschen nicht schaden dürfen.
Der Düsseldorfer Europol-Fahnder «Gesicht» wird mit den Ermittlungen betraut. Gesicht ist einer der sieben am weitesten entwickelten Roboter der Welt. Er erinnert an den typischen Film-Noir-Protagonisten: seiner Arbeit überdrüssig und mit tragischer Vergangenheit.
Bei seinen Ermittlungen stellt sich heraus, dass die sieben stärksten Roboter und gewisse Wissenschaftler Ziele der Morde sind. Im Verlauf der Geschichte trifft Gesicht auch auf Atom und die anderen der sieben grossen Roboter.
Drei Jahre vor der Hauptgeschichte nahm der 39. Zentralasiatische Krieg sein Ende. In diesem marschierten die Vereinigten Staaten von Thrakien in Persien ein. Unter dem Vorwand, dass letzterer unerlaubterweise über Massenvernichtungswaffen verfügt. Was aber nicht der Fall war.
Die Vorgeschichte von «Pluto» weist eindeutige Parallelen mit der Realität auf. «Pluto» entsteht zwischen 2003 und 2009. Einer Zeit, in der die Welt vermeintlich der Bedrohung von Massenvernichtungswaffen ausgesetzt ist. Das Werk nimmt den Einmarsch der USA in den Irak zum Vorbild. Die angeblichen Massenvernichtungswaffen sind in «Pluto»-Roboter. Sie sind es denn auch, die den Krieg im Werk entscheiden.
Die sieben grossen Roboter hatten auf die eine oder andere Art und Weise Einfluss auf den 39. Zentralasiatischen Krieg. Entweder sie kämpften wie Gesicht und haben viele ihrer Roboterkameraden auf dem Gewissen. Oder sie wurden wie Atom als Propagandamittel eingesetzt. Sie leiden unter ihrem Einfluss und den Rollen, die sie im Krieg gespielt haben. Die sieben grossen Roboter werden von der Menschheit als Superhelden verehrt, in ihrem Inneren sind sie jedoch tief gespaltene Charaktere mit Fehlern.
Der süsse, auf Hochglanz polierte Charakter aus «Astro Boy» erscheint in «Pluto» in einem anderen Licht. Atom in Tezukas Erzählung soll den Menschen in der Nachkriegszeit als unantastbarer Charakter Hoffnung geben. Urasawa verleiht ihm mehr Tiefe und macht ihn zugänglicher. Ich identifiziere mich mehr mit dem verletzlichen und fehlerhaften Charakter als mit dem herausragenden Atom Tezukas.
Zentrale Themen des Werks sind der Schrecken des Krieges, Xenophobie und Rassismus. Dazu werden wie bereits in «Monster» Fragen der Identität verhandelt – und was es bedeutet, Mensch zu sein. Staatliche Strukturen und das Ausnutzen von Macht werden kritisch betrachtet. Mehr möchte ich dir aber nicht zur Geschichte verraten. Denn wie alle Werke von Urasawa ist «Pluto» nicht in your face, sondern gibt dir Raum für eigene Interpretationen.
Naoki Urasawa ist einer der renommiertesten Mangakas unserer Zeit. Er wurde mit diversen Preisen ausgezeichnet wie dem Tezuka Osamu Cultural Prize. Urasawa ist ein Meister der Erzählung. Er wagt sich an diverse Genres heran. Während sich «Monster» an die reale Welt anlehnt, spielt «Pluto» in einer futuristischen Welt. Sein neuestes Werk «Asadora» mischt japanische Telenovela mit Kaijū und alternativer Geschichte.
Urasawa's Zeichnungsstil zeichnet sich durch klare, schnörkellose Linien aus. Seine Hintergründe strotzen vor Detailreichtum. Im Mittelpunkt bei den Charakteren stehen die Gesichter und ihre Mimik. Übersexualisierte Charaktere findest du bei Urasawa nicht. Trotz der teils mystischen und futuristischen Themen sind die Panels und Geschichten reduziert und realistisch.
Ein genialer Schöpfer und eine gute Vorlage garantieren noch keinen Hit. Ein letzter Punkt lässt jedoch vermuten, dass «Pluto» die Anime-Umsetzung erhält, die er verdient. Das hängt mit dem produzierenden Studio zusammen.
Hinter dem Projekt steht kein Geringerer als Masao Murayama. Murayama beginnt seine Karriere bei Mushi Production, wo er für den Erfinder von «Astro Boy» Osamu Tezuka arbeitet. Er verlässt das Studio 1972 und gründet mit Kollegen das Studio Madhouse. Hier ist er für die Produktion verantwortlich. In dieser Funktion produziert er einige der besten Animes, die je gemacht wurden. Darunter die legendären Filme von Satoshi Kon wie «Perfect Blue» oder «Tokyo Godfathers». Auch Serien wie «Ninja Scroll» oder «Monster» stammen aus dem Studio Madhouse.
Dass er nicht nur ruhige Filme produzieren kann, beweist Murayama ab 2011. Dann verlässt er Madhouse und gründet ein weiteres Studio, das in den kommenden Jahren die Szene aufmischt: Mappa. Das Studio zeichnet sich zumindest teilweise für die Umsetzung von «Attack on Titan» oder «Vinland Saga» verantwortlich. Damit nicht genug, setzt Mappa auch die Animes des Dark Trio des Shonen Anime um: «Jujutsu Kaisen», «Hell’s Paradise» und «Chainsaw Man».
Mittlerweile ist Murayama nicht mehr Präsident von Mappa. Nicht, weil er in Rente ist. Nein, 2016 gründet er ein weiteres Studio: M2. Dieses ist nun für die Umsetzung von «Pluto» verantwortlich.
Die Handschrift von Murayama ist im Trailer zu «Pluto» deutlich zu erkennen. Dabei scheint der Anime auch dem Manga und Urasawas Stil treu zu bleiben. Gewisse Panels sind eins zu eins umgesetzt, wie du im folgenden Video siehst. Auch die Geschichte scheint der Vorlage zu folgen.
«Pluto» gelingt es, diverse Genres zu vereinen: Cyberpunk und Detektivgeschichte. Thriller und Superheldengeschichte. Dabei sind die Helden aber gar nicht so super, sondern fehlerhaft – selbst «Astro Boy», der die Geschichte inspiriert hat.
Ich freue mich riesig auf «Pluto». Die Manga-Vorlage lese ich gerade zum zweiten Mal – zur Vorbereitung, wenn es am 26. Oktober losgeht. Aufgrund der vier genannten Punkte bin ich überzeugt, dass der Anime ein Hit wird und vielleicht sogar der beste im Jahr 2023.
Titelbild: NetflixTechnologie und Gesellschaft faszinieren mich. Die beiden zu kombinieren und aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten, ist meine Leidenschaft.