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Wie «Red Dead Redemption 2» dich zur Langsamkeit zwingt

Die meisten AAA-Games setzen auf Fast-Food-Action und möglichst viel Komfort. «Red Dead Redemption 2» trabt in die andere Richtung und zwingt dich zum langsamen Genuss – und das ist gut so.

In «Red Dead Redemption 2» gibt es die folgende Challenge: Reite in unter neun Minuten von einem kleinen Kaff im Nordwesten der Karte in die industrialisierte Hauptstadt im Süden. Ohne diese Dringlichkeit und mit den unzähligen Ablenkungen unterwegs benötigt man gerne mal eine halbe Stunde oder mehr für diese Strecke. Das verdeutlicht die Zeit, die man sich für «Red Dead Redemption 2» nehmen muss. Die Grösse der Karte ist längst nicht das einzige Element, das dafür sorgt, dass man nur gemächlich vorwärts kommt. Entwickler Rockstar zieht damit aber nicht künstlich das Spiel in die Länge, sondern zwingt dich damit, das Spiel wie ein gutes Essen zu geniessen. Im Zeitalter in dem Blockbuster-Games und ihre Kino-Pendants auf leicht bekömmliche Kost mit viel Komfortfunktionen und Action im Dauertakt setzen, um die übersättigten Zuschauer möglichst lange bei Stange zu halten, ist Rockstars Weg die perfekte Entschleunigungskur.

Wie ein alter Spaghetti-Western

Filme wie «The Good, The Bad and The Ugly» waren klar Quelle der Inspiration.
Filme wie «The Good, The Bad and The Ugly» waren klar Quelle der Inspiration.

«Red Dead Redemption 2» orientiert sich nicht nur bei der Story und der Präsentation an alten Spaghetti-Western sondern auch beim Tempo. Zwar dauert keine Duellszene so lange wie die in «The Good, The Bad and The Ugly» («Zwei glorreiche Halunken»), aber ihr braucht definitiv Geduld. Sei es beim explizit dargestellten Häuten von Tieren und dass nur ein grösserer Kadaver auf das Pferd passt. Oder weil du im Camp weder reiten noch rennen kannst. Die vielen, oft ausführlichen Unterhaltungen, kannst du nur komplett überspringen, nicht aber einzelne Sätze. Deine Waffen wollen regelmässig gewartet werden, ansonsten schiessen sie schlechter. Das gleiche gilt für dein Pferd. Statt geölt, will dein Pferdchen gestriegelt, gefüttert und gestreichelt werden. Nur so erhöht sich die Bindung und die Leistung deines Vierbeiners.

Im Schnee bist du besonders langsam unterwegs.
Im Schnee bist du besonders langsam unterwegs.

Wenn du Fleisch braten möchtest oder eine neue Tinktur mixt, dann machst du das für jedes einzelne Kotelett und Fläschchen. Lootest du Gegner, dann tastet Protagonist Arthur sie einzeln ab und durchsucht ihre Taschen. Oder du öffnest in einer Kommode jede Schublade separat und findest dann vielleicht eine Dose Haarpomade, die Arthur dann sorgfältig in die Hand nimmt und verstaut.

Wenn du eine Kutsche überfallen willst, dann musst du erst dein Halstuch hochziehen, wenn du unerkannt bleiben willst. Und auch die Waffen müssen erst gezückt werden, bevor du damit auf jemanden zielen kannst.

Schnellreisen funktioniert nur mit dem Zug und auch dann gibt es lediglich eine handvoll Stationen. Zwar kann sich Arthur im Verlauf des Spiels eine Karte zum Schnellreisen kaufen, aber selbst damit lassen sich nur wenige Orte anwählen und nur vom Camp aus. Die meiste Zeit wirst du hoch zu Ross verbringen und im Pferdetempo die entlegenen Ecken erkunden.

Genau diese Detailverliebtheit ist es, die «Red Dead» so aussergewöhnlich macht. Hier erwartet dich kein 0815-Fastfood-Menü, das du in 10 Minuten runterstürzt. «Red Dead» ist ein 6-Gang-Feinschmecker-Menü, das du langsam und genüsslich geniesst. In «GTA V» bin ich meist mit Tunnelblick durch die Gegend gebrettert und hab nur auf die Minimap gestarrt, bis ich am Ziel war. Von der Umgebung habe ich kaum etwas mitgekriegt. «Red Dead Redemption 2» ist das pure Gegenteil. Besonders wenn du die Minimap ausblendest. Durch das gemächliche Tempo nimmst du viel mehr von der Umgebung wahr. Die malerischen Landschaften sind ein Genuss und die Welt wird mit jedem neuen Ausritt lebendiger.

Solche majestätischen Tiere dauern besonders lange zum Häuten.
Solche majestätischen Tiere dauern besonders lange zum Häuten.

Dadurch, dass du dir für jede Handlung deutlich mehr Zeit nehmen musst, als in anderen vergleichbaren Spielen, wird dir alles viel bewusster. Das Abliefern eines erlegten Rehs gewinnt viel mehr an Bedeutung, wenn du es häuten, zum Pferd tragen, aufs Pferd binden, dann wieder schultern und schliesslich dem Metzger auf den Tisch knallen musst, bevor du deine Belohnung erhältst. In «Far Cry 5» drückst du für die gleiche Arbeit eine einzige Taste.

Das gleiche gilt für das Waffen- oder Lebensmittelgeschäft. Dort sind die ganzen Güter physisch ausgestellt und du kannst sie bei Bedarf direkt aus dem Regal pflücken. Jeder Gegenstand wurde animiert, was für noch mehr Realismus sorgt.

Wenig Tempo, dafür viel AAA-Politur

Unterhaltungen mit anderen Gangmitgliedern sind meist optional, aber es lohnt sich, hinzuhören.
Unterhaltungen mit anderen Gangmitgliedern sind meist optional, aber es lohnt sich, hinzuhören.

All diese «mondänen» Aufgaben funktionieren in so einem umfangreichen Spiel nur durch Rockstars Detailverliebtheit. Durch die unzähligen Animationen vom Hervorkramen einer Schatzkarte aus der Umhängetasche, über das Streicheln des Pferdes bis hin zum Aufbrechen eines Tresors fühlt sich das Spiel nie nach Arbeit an. Auch nach 60 Stunden hat es mir noch Spass gemacht, meine Waffen zu putzen oder alle meine Gliedmassen separat in der Wanne zu waschen – sollte ich mehr machen, denn mein Arthur stinkt vermutlich 100 Meter gegen den Wind noch wie ein altes Stück Speck.

Da du einen Grossteil des Spiels vom Rücken deiner Stute oder deines Hengstes erleben wirst, hat Rockstar dort besonders viel Arbeit reingesteckt. Tuschiert du einen anderen Reiter oder einen Baum, strauchelt Arthur, kann sich aber im Sattel halten. Ob Bergauf oder Bergab verändert die Haltung des Reiters. Versuchst du im Stile der Bergponys in «Skyrim» Felsen zu erklimmen, beginnt das Pferd realistisch zu rutschen, bis es sich brutal überschlägt und dich durch die Luft wirft. Reitest du durch dichtes Gestrüpp, biegen sich dünne Äste, während dich dickerer Stämme schon mal aus dem Sattel schmeissen.

Die Lichteffekte sind beeindruckend.
Die Lichteffekte sind beeindruckend.

Das Wetter wechselt dynamisch inklusive fliessender Tag-Nacht-Wechsel. So wird aus einem gemütlichen Ausritt bei Sonnenschein schon mal ein Ritt durch peitschenden Regen mit gleissenden Blitzen. Zusammen mit den sagenhaften Lichteffekten, wie wenn Sonnenstrahlen schwach durch dichten Nebel schimmern oder wenn die Abendsonne grüne Wiesen in einen orangen Teppich verwandelt, wird kein Ausflug in «Red Dead Redemption 2» langweilig.

Die Animationen werden ergänzt durch ein umfassendes Dialogsystem, das sich den Gegebenheiten anpasst. Arthur gibt häufig kontextuelle Antworten wenn er mit der Umwelt interagiert oder Personen begegnet. Das gleiche gilt umgekehrt. Je nach Arthurs Auftreten reagieren die Menschen anders. Hast du ein totes Tier rumgetragen, ist deine Kleidung Blut verklebt und du wirst nicht nur komisch beäugt, sondern auch gefragt, ob du einen Unfall hattest. All diese Details sorgen dafür, dass sich die Welt lebendig anfühlt.

Die Schattenseite

Ohne irgendjemanden den Spass am Spiel verderben zu wollen, ist es wichtig, dass man in diesem Zusammenhang über die viel kritisierten Arbeitsbedingungen bei Rockstar spricht. Denn nur der immense Einsatz von Manpower hat diesen enormen Detailreichtum möglich gemacht. Rockstar stand schon mehrmals in der Kritik, seine Angestellten ungerecht zu behandeln. Bereits beim ersten «Red Dead Redemption» und auch bei «L.A. Noire» gab es solche Vorfälle. Exzessive Überstunden, auch «Crunch» genannt, sind in der Branche ein berüchtigtes Problem. Ein entsprechend grosses Augenmerk liegt in dieser Hinsicht auf Rockstar als eine der prestigeträchtigsten Firmen.

Auch mit «Red Dead Redemption 2» ist Rockstar ins Kreuzfeuer geraten. Auslöser war eines der seltenen Interviews des Rockstar-Mitgründers Dan Houser. Gegenüber dem New Yorker Magazin erzählte er, dass sie 100-Stunden-Wochen schoben, um das Spiel fertig zu kriegen. Zwar relativierte er später die Aussage, dass es sich dabei primär um das Schreiber-Team handle, zu dem auch er gehört. Die Schleusen waren aber bereits geöffnet. In den kommenden Wochen bestätigten zahlreiche ehemalige und aktuelle Angestellte von Rockstar die harschen Arbeitsbedingungen. Überzeit sei oft nicht optional, sondern praktisch Pflicht. Nachdem Rockstar seinen Mitarbeitern erlaubte, die Thematik offen zu kommentieren, gab es zwar auch viele Stimmen, die sich zufrieden über ihren Job äusserten und nie mehr als 50 Stunden pro Woche arbeiten mussten. An den zahlreichen Aussagen anderer Rockstar-Angestellten, die die Crunch-Kultur bestätigten, änderte das nichts. Branchenkenner und Game-Journalist Jason Schreier hat mit über 90 Mitarbeitern gesprochen und einen lesenswerten Artikel dazu geschrieben.

Das bedeutet nicht, dass man Rockstar deswegen boykottieren muss. Zumal man damit wohl in erster Linie den Angestellten schaden würde. Es ist aber wichtig, dass man sich dieser Problematik bewusst ist. Unter welchen Bedingungen entstehen Spiele? Verschliessen wir unsere Augen, Hauptsache unsere Spiele werden so gut wie möglich? Auch wenn in der Schweiz Angestellte besser geschützt sind und wir nur indirekt Einfluss auf ausländische Firmen nehmen können, hilft es, den Dialog darüber am Laufen zu halten. Der Genuss sollte uns nicht davon abhalten, kritisch zu bleiben.

Lass dir Zeit

«Red Dead Redemption 2» ist unbestritten ein Meisterwerk.
«Red Dead Redemption 2» ist unbestritten ein Meisterwerk.

Ich hoffe, ich hab dir jetzt nicht die Lust am Western-Abenteuer genommen. Diesen Entschleunigungs-Trip solltest du dir nämlich nicht entgehen lassen. So viel Umfang, so viel Detailverliebtheit, eine so lebendige und kohärente Welt kriegst du nämlich nirgends sonst. Schalte einen Gang zurück und stell dich darauf ein, dass in «Red Dead Redemption 2» alles etwas länger dauert. Wenn du dich aber darauf einlässt, dann nimmt dich das Spiel auf eine unvergessliche Reise in den Wilden Westen mit, die du so schnell nicht vergessen wirst.

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Als Kind durfte ich keine Konsolen haben. Erst mit dem 486er-Familien-PC eröffnete sich mir die magische Welt der Games. Entsprechend stark überkompensiere ich heute. Nur der Mangel an Zeit und Geld hält mich davon ab, jedes Spiel auszuprobieren, das es gibt und mein Regal mit seltenen Retro-Konsolen zu schmücken. 

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