«Wir halten uns selbst nicht aus»: Warum mehr Langeweile gut ist
Hintergrund

«Wir halten uns selbst nicht aus»: Warum mehr Langeweile gut ist

Wer sich langweilt, ist bloss faul und unproduktiv. Soweit der Vorwurf. Tatsächlich ist Langeweile ein konstruktiver Zustand, durch den du zu dir selbst findest. Psychologe Dr. Marc Wittman erklärt, wieso.

Während du das hier liest sitzt du vielleicht im Zug, im Bus oder vertreibst dir die Zeit in der Arbeitspause. Dir ist langweilig. Was wie ein Vorwurf klingt, ist eigentlich ein durchaus konstruktiver Zustand, den die meisten Menschen zu schätzen verlernt haben. Das sagt zumindest Dr. Marc Wittmann, Arzt und Humanbiologe mit Forschungsgebiet Zeitwahrnehmung. Seit Jahren geht er der Frage nach, wie wir Zeit wahrnehmen, unter anderem am Beispiel der Langeweile.

Wer sich langweilt, ist sich selbst nahe.

Oft bist du es selbst, der diese Zeit boykottiert. Du holst das Handy raus, checkst deine Nachrichten, E-Mails, den Instagram-Feed – oder liest diesen Artikel. Auch Studien belegen: Das Smartphone verändert unser Verhalten. Smartphone-Nutzerinnen und Nutzer fühlen sich stärker mit ihrem Handy verbunden als mit anderen Menschen und letztlich mit sich selbst. Wie die Langeweile dabei helfen kann, zurück zu dir zu finden, erzählt der Psychologe im Interview.

Dr. Wittmann, wenn ich mich im Bus oder Zug umsehe, scheint sich heute niemand mehr zu langweilen. Täuscht der Eindruck?

Dr. Marc Wittmann: Wir haben jeden Tag mehrere Momente, in denen wir uns langweilen. Wenn wir an der Supermarktkasse stehen oder auf den Zug warten. Die Langeweile ist schon noch da, nur können wir heute schneller reagieren, um sie wieder loszuwerden. Wir zücken direkt das Handy – die perfekte Maschine, um der Langeweile zu entgehen.

Warum machen wir das?

Indem ich auf das Handy starre, passiert Folgendes: Ich bemerke mich selbst nicht mehr. Ich entfliehe der Eigenwahrnehmung. In der Zeit könnte ich mich auch mit mir selbst beschäftigen: Wie es mir heute geht, was ich erlebt habe oder heute noch erleben möchte. Indem ich das Handy zücke, suche ich die Flucht in etwas anderes. Ich bin mir selbst zu langweilig.

War das vor dem Smartphone anders?

Früher hat man keine Möglichkeit gehabt, sich so schnell abzulenken. Die Menschen sind eher in einen Zustand der Langeweile hineingekommen und haben die Langeweile länger wahrgenommen. Ich erwähne an der Stelle immer gerne ein Foto aus den 1950er Jahren: In einer New Yorker Bahn fahren viele Menschen in die Stadt und haben alle eine große Zeitung vor ihrem Gesicht. Das ist natürlich dasselbe: Sie füllen die leere Zeit mit Ablenkung. In dem Fall mit der Papierzeitung.

Was ist denn eigentlich die Langeweile?

Die Langeweile ist eine negative Wahrnehmung von uns selbst. Wir können uns in diesem Moment selbst nicht aushalten. In der Langeweile fließt die Zeit ganz träge dahin und ich spüre die Zeit besonders stark und ganz negativ.

Warum ist es trotzdem wichtig, uns manchmal zu langweilen?

Wir sind den ganzen Tag Input ausgesetzt, den wir in der Menge nicht mehr verarbeiten können. Wenn wir uns ständig mit Stimulation zuballern, haben wir keine Zeit und auch keinen Raum, auf eigene Gedanken zu kommen. Manchmal müssen wir durch ein Tal der Langeweile gehen, um auf die besten Ideen zu kommen. Das kann etwas Kreatives für die Arbeit sein oder wie ich ein privates Problem löse. Doch viel öfter vermeiden wir unsere inneren und eigenen Geschichten und ihre Entwicklung, indem wir uns mit fremden Geschichten im Web befassen. Wir blockieren damit die eigene Kreativität. Selbstständig Geschichten zu entwickeln ist schließlich das, was Kreativität ausmacht. Die können wir nicht nur für die Arbeit nutzen, sondern auch für unsere Lebensziele. Langeweile ist, wie alle Emotionen, nicht grundlos da. Sie will uns immer auch etwas sagen.

Und was sagt uns die Langeweile?

Dass wir etwas ändern müssen. Entweder, indem ich mich ablenke, oder indem ich mich frage: Warum ist mir jetzt langweilig? Der Philosoph Heidegger hat es so formuliert: Durch die Langeweile habe ich den unmittelbarsten Selbstbezug – darüber, wer ich bin.

Wir holen das Smartphone raus, damit die Zeit schneller vergeht. Welche Rolle spielen Handy und Soziale Medien für unsere Wahrnehmung von Langeweile?

Mit dem Smartphone haben ich die perfekte Ablenkungsmaschine. Ich habe die ganze Welt in einem kleinen Gerät verfügbar und kann mit jedem Menschen der Welt darüber Kontakt aufnehmen – und das jederzeit und ohne Ende. Dabei verliere ich mein Ichgefühl und mein Zeitgefühl. Selbstwahrnehmung und Zeitwahrnehmung hängen eng zusammen: Ich entfliehe mir selbst und weil ich mich selbst nicht mehr bemerke, vergeht die Zeit plötzlich ganz schnell. Wenn ich aber auf etwas warte, bemerke ich mich selbst sehr stark und die Zeit vergeht sehr langsam. Mit dem Smartphone komme ich schnell wieder aus dem Langeweile-Modus.

Sie haben Studien über Langeweile durchgeführt und kamen unter anderem zu dem Ergebnis: Ob und wie sehr wir uns langweilen, hängt auch von unserer Persönlichkeit ab. Für wen ist , Langeweile besonders schwer auszuhalten?

Für impulsive Menschen. Die Definition von Impulsivität ist, dass man auf Belohnung nicht warten kann. Das führt dazu, dass sich impulsive Menschen schneller langweilen. In unserer Studie haben wir Menschen unter falschem Vorwand zu einem Experiment eingeladen und sie dann 7,5 Minuten in einem Raum warten lassen. Vorher haben wir ihnen das Handy abgenommen und alle Bücher oder Zeitschriften aus dem Raum entfernt. Das Ergebnis war: Impulsive Menschen haben die Wartezeit subjektiv sehr überschätzt, sie waren schlechter gelaunt und ihnen war sehr langweilig.

Und welche Eigenschaft liegt am anderen Ende des Spektrums? Wer hält Langeweile gut aus?

Menschen mit einer hohen Fähigkeit zur emotionalen Selbstregulation. Selbstregulation bedeutet: Ich reagiere nicht automatisch auf eine Situation. Wenn zum Beispiel etwas Schlechtes passiert, kann ich mich selbst hochregulieren, damit es mir wieder besser geht. Diese Menschen können flexibler auf die Situation reagieren. In der Wartesituation haben sie darüber nachgedacht, was sie später noch tun möchten oder wie es ihnen gerade geht. Für sie verging die Zeit schneller und sie waren durch die Wartesituation weniger schlecht gelaunt.

Sollten wir alle wieder lernen, die Langeweile zu genießen? Können wir die Langeweile üben?

Beim Langweilen ist es wie beim Klavierspielen. Wenn du willst, dass es nach etwas klingt, musst du viel üben. Auch das Langweilen müssen wir wieder lernen. Zum Beispiel im Bus: In diesen zehn Minuten kann ich üben, einfach mal nichts zu tun. Auch nicht auf mein Handy zu schauen. In diesen Zeiten – so klein sie sind – kann ich üben, leere Minuten wieder durchzustehen. Das ist eine Art Psychohygiene, bei der ich über mich selbst nachdenken kann: Was will ich, wie fühle ich mich, wie war mein Tag? Ich bekomme wieder mehr Selbstkontrolle und gewinne Zeit für mich. Und die sollten wir anfangen zu nutzen.

Titelfoto: shutterstock

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Olivia Leimpeters-Leth
Autorin von customize mediahouse

Ich liebe blumige Formulierungen und sinnbildliche Sprache. Kluge Metaphern sind mein Kryptonit, auch wenn es manchmal besser ist, einfach auf den Punkt zu kommen. Alle meine Texte werden von meinen Katzen redigiert: Das ist keine Metapher, sondern ichglaube «Vermenschlichung des Haustiers». Abseits des Schreibtisches gehe ich gerne wandern, musiziere am Lagerfeuer oder schleppe meinen müden Körper zum Sport oder manchmal auch auf eine Party. 


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