«Wir müssen lernen, dass nicht eine Medizin für alle gelten kann»
Frauen und Männer sind unterschiedlich – doch das wird im Krankheitsfall oft ignoriert. Tanja Volm leitet an der Universität Luzern das neue Modul «Gendermedizin». Ein Gespräch über Krankheitsbilder, Therapien und soziale Unterschiede.
Wer in der Apotheke ein Medikament kauft, bekommt ein Präparat mit einer bestimmten Dosierung. Egal wie gross, schwer oder alt die Person ist, egal ob Mann oder Frau, egal welche Eigenschaften auch immer ihn oder sie sonst noch auszeichnen. Eines für alle. Dass in der Folge ganz viele Menschen Wirkstoffe zu sich nehmen, die für sie zu hoch oder zu niedrig dosiert sind, ist relativ einleuchtend. Warum dieser Umstand überhaupt existiert und wie man die Situation verbessern könnte, sprich medizinische Behandlungen individueller auf die einzelne Person einstellen, damit befasst sich Doktor Tanja Volm, Ärztin und Leiterin des Moduls «Gendermedizin» an der Universität Luzern. Wobei es dabei um viel mehr Unterscheidungsmerkmale geht, als um das biologische rsp. soziale Geschlecht, wie sie im Interview gleich sagt:
Frau Volm, warum ist Gendermedizin so wichtig?
Tanja Volm: Es geht darum zu lernen, dass Medizin, die sich aufgrund verschiedener Gründe vor allem für weiße Männer entwickelt hat, nicht automatisch so auf Frauen übertragbar ist. Wir müssen lernen, dass Menschen unterschiedlich sind und dass nicht EINE Medizin für ALLE gelten kann. Gendermedizin fokussiert dabei auf Männer und Frauen, aber genauso gibt es Unterschiede beim Alter, in der Ethnie, beim Körpergewicht, beim sozialen Umfeld usw., welche ebenfalls berücksichtigt werden müssen. Gendermedizin ist damit ein Bereich, der uns in Richtung einer individualisierten Medizin weist – und er hat für uns drei Schwerpunkte: Die klassische Gendermedizin beschäftigt sich mit den Unterschieden von Männern und Frauen in der Diagnostik und Therapie von Erkrankungen, sowie in der Wahrnehmung von Gesundheitsangeboten. Dazu gehört auch die Berücksichtigung aller Geschlechter in der pharmakologischen Forschung.
Und die anderen beiden Schwerpunkte, worauf fokussieren die?
Der zweite Schwerpunkt beschäftigt sich mit Menschen, die sich nicht eindeutig einem Geschlecht zuordnen können oder sich mit ihrem biologisch zugewiesenen Geschlecht nicht identifizieren können. Hier beschäftigt sich Gendermedizin damit, diese Menschen in die Medizin zu integrieren und für sie adäquate Angebote zu definieren. Weiterhin hat sie einen psychosozialen Aspekt bzw. ist Teil einer umfassenderen Sicht auf Diversität. Hier geht es um die Untersuchung kultureller Narrative von Gesundheit und Medizin, aber auch um Themen wie häusliche Gewalt oder die Rolle von Frauen und Männern in der Medizin.
Welche Projekte und Forschungen laufen derzeit bei Ihnen?
Die Uni Luzern nimmt das Thema sehr ernst. Derzeit gibt es bereits ein Modul «Gender Medicine» für fortgeschrittene Studierende der Medizin, erstmalig angeboten 2022. Für Studierende des Bachelorstudienganges Gesundheitswissenschaften wird im Herbst 2023 ein Kurs «Gender Medicine» gestartet, für Studierende des Masterstudienganges Gesundheitswissenschaften wird ab 2024 ein Kurs «Advanced Gender Medicine» konzipiert. Diese Kurse werden im Rahmen von Forschungsarbeiten evaluiert, weiterhin laufen einige Forschungsprojekte in diesem Bereich. Ein Beispiel ist etwa die Untersuchung von geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Belastung von pflegenden Angehörigen von Demenzerkrankten. Auch wird untersucht, welchen Einfluss das Geschlecht von Ärztinnen und Ärzten auf die Wahrnehmung von Erkrankten bezüglich des Leistungsangebotes und der Ergebnismitteilung hat.
Warum gerade in Luzern?
Wir sind eine junge und innovative Universität. Die Schwerpunkte Wirtschaft, Theologie, Medizin, Gesundheitswissenschaften und Psychologie erlauben eine breite Sicht auf das Thema Gender und Diversity. Durch die Neu-Gründung der Fakultät für Gesundheitswissenschaften und Medizin konnten wir neue Aspekte in das Curriculum einbauen, was für etablierte Fakultäten sehr viel schwieriger ist.
Welche Unterschiede zwischen Mann und Frau gibt es zu bedenken?
Eigentlich gibt es bei allen relevanten Krankheitsbildern Unterschiede – in der Häufigkeit, in der Krankheitssymptomatik, in der Therapieart, in der Wirkung von Medikamenten. Neben Herzerkrankungen sind Unterschiede auch bei psychischen bzw. psychiatrischen Erkrankungen sehr häufig, aber auch bei immunologischen Erkrankungen. Selbst bei Infektionserkrankungen gibt es starke Unterschiede. Frauen haben eine andere chromosomale Ausrüstung. Sie haben 2 X-Chromosomen, Männer nur eines, dafür ein Y-Chromosom. Frauen haben eine andere hormonelle «Ausstattung» als Männer, was zu Unterschieden im Körperbau, im Stoffwechsel, in der Medikamentenwirkung etc. führt. Viele Themen der Gendermedizin haben hier ihren Ursprung. Frauen haben zudem häufig eine andere Sozialisation erfahren als Männer.
Also liegt der Unterschied nicht nur an der Größe und Gewicht?
Nein, definitiv nicht. Auch eine große Frau ist anders krank, anders gesund als ein Mann.
Stichwort Medikamente und Therapien im Test: Warum ist es schwieriger, klinische Studien mit weiblichen Probandinnen durchzuführen?
Frauen sind nicht optimale Teilnehmerinnen für Zulassungsstudien. Sie können schwanger sein und ihr zyklisch sich verändernder Hormonspiegel braucht besondere Beachtung. Diese Schwierigkeiten dürfen aber nicht dazu führen, dass Medikamente nicht an Frauen erprobt werden. Die entsprechenden Untersuchungen müssen Frauen integrieren, falls das Medikament auch bei Frauen eingesetzt werden soll.
Hilft Gendermedizin auch Männern?
Nicht nur Frauen werden in manchen Fällen fehlerhaft diagnostiziert oder therapiert. Auch Männern kann das passieren. So werden z.B. Depressionen bei Männern seltener diagnostiziert. Die Ursache liegt zum einen daran, dass Depression als «Frauenkrankheit» gilt und Männer mit entsprechenden Symptomen nicht zum Arzt oder zur Ärztin gehen. Aber auch Ärzte und Ärztinnen interpretieren Depressionssymptome bei Männern anders als bei Frauen. Das kann dazu führen, dass Männer mit unentdeckter und nicht behandelter Depression vermeidbare Suizide verüben. Gendermedizin ist also definitiv nicht Frauen-Medizin. Es ist eine Medizin, die den Unterschieden der Menschen mit Fokus auf dem Geschlecht gerecht wird. Sie ist auch kein Fachgebiet, sondern eine Ergänzung zu den bestehenden Fachgebieten. Unsere Studierenden und Ärztinnen und Ärzte werden lernen, Gender als Teil ihres Fachgebietes zu berücksichtigen. Und sie werden lernen, geschlechtsbezogene Ungleichheiten in Gesundheit und Medizin, z.B. im Bereich sozialer und ethnischer Herkunft zu erkennen und adäquat damit umzugehen.
Können Sie uns noch ein anderes Beispiel nennen, das zeigt, wie wichtig Gendermedizin ist?
Der Herzinfarkt. Unsere Gesellschaft scheint der Überzeugung, dass der Herzinfarkt eine Männerkrankheit ist. Der gestresste Mann, der zu wenig schläft, zu viel arbeitet. Folglich werden typische Symptome vom männlichen Krankheitsbild abgeleitet: Brustschmerzen, die bis in den linken Arm ausstrahlen. Erleiden Frauen einen Herzinfarkt, äußert er sich eher durch Bauchschmerzen und allgemeines Unwohlsein. Gerade weil der Fokus aber so stark auf dem männlichen Krankheitsbild liegt, werden Herzinfarkte bei Frauen oft spät entdeckt.
PS. Noch immer sterben Frauen nach einem Herzinfarkt häufiger als Männer, wie viele Studien und zuletzt diese bestätigt haben. Hingegen sinkt laut dieser Studie die Sterberate von Frauen mit Herzinfarkt, werden sie von männlichen Ärzten behandelt, die gemeinsam mit weiblichen Kollegen praktizieren oder wenn sie in der Vergangenheit mehr weibliche Patienten behandelt haben.
Titelfoto: shutterstockLebe lieber ungewöhnlich: Ob Gesundheit, Sexualität, Sport oder Nachhaltigkeit, jedes Thema will entspannt, aber aufmerksam entdeckt werden. Mit einer gehörigen Portion Selbstironie und niemals ohne Augenzwinkern.