Xia Peisu: Die Mutter der Computerwissenschaften in China
Vom Rest der Welt isoliert, treibt eine Frau die chinesische Computerbranche voran. Im April 1960 zeigt Xia Peisu Chinas ersten, selbstgebauten Allzweck-Digitalcomputer: das Modell 107.
China ist im Jahr 1960 ein zerrüttetes Land. Nach dem Zweiten Sino-Japanischen Krieg, einem Bürgerkrieg und dem Bruch mit dem früheren Partner Sowjetunion steht das Land vor dem Nichts. Zumindest von Aussen gesehen. Inmitten der Trümmer brodelt es und es wird an allen Enden daran gearbeitet, dass China wieder zur Weltmacht wird. Mittendrin: Xia Peisu, die Frau, die in China als Mutter der Computerwissenschaften gilt.
Ausbildung und Liebe
Xia wird am 28. Juli 1923 in der südöstlichen Gemeinde Chongqing in eine Pädagogen-Familie geboren. Bildung wird ihr in die Wiege gelegt. Bereits mit vier Jahren besucht sie die Grundschule und schliesst 1940 als Klassenbeste die Schule ab.
China befindet sich zu dieser Zeit im Zweiten Sino-Japanischen Krieg. Einem achtjährigen Konflikt zwischen beiden Ländern, der Millionen chinesischer Zivilisten das Leben kostet. Bei Kriegsausbruch im Jahr 1937 erobern die Japaner Nanjing, die Hauptstadt der Republik China. Xias Heimat Chongqing wird zu einem Zufluchtsort für Flüchtlinge aus Nanjing. Die Stadt wird auch zum Sitz der Nationalen Zentraluniversität. Dort studiert sie ab 1941 Elektrotechnik.
Xia schliesst 1945 mit einem Bachelor-Abschluss in Elektrotechnik ab. Im selben Jahr lernt sie ihren zukünftigen Ehemann, den Physiker Yang Liming kennen. Beide promovieren zwei Jahre später an der Universität Edinburgh. In ihrer Dissertation entwickelt sie Methoden, wie Frequenz- und Amplitudenschwankungen in elektronischen Systemen genauer vorhergesagt werden können. Diese führen zu weitreichenden Anwendungen für jedes System mit einer elektrischen Frequenz: von Radios über Fernseher bis hin zu Computern.
Im Jahr 1950 erhält sie ihren Doktortitel und heiratet Yang. 1951 verlässt das Paar Grossbritannien, um in seinem Heimatland an der Universität zu unterrichten. Die beiden haben einen gemeinsamen Traum: Ihr Heimatland, das sich im Aufbruch befindet, mitzuentwickeln. Doch das China, in das sie zurückkehren, ist ein verändertes China.
Etwas chinesische Geschichte
1949 setzt sich die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) im chinesischen Bürgerkrieg gegen die Kuomintang-Partei (Chinesische Nationalistische Partei) durch. Die Republik China wird durch die Volksrepublik China unter der Führung von Mao Zedong ersetzt.
Der Zweite Sino-Japanische Krieg trifft das Land besonders hart. Alle höheren Bildungseinrichtungen, alle Finanzzentren, das Hauptzentrum der Industrieproduktion und die Regierung Chinas sind in die ärmere Gegend von Sichuan geflohen. Die Regierung Chinas führt eine Art Überlebensdasein, da sie nicht in der Lage ist, in Elektrotechnik, Waffendesign und so weiter zu investieren.
Die KPCh versucht die verlorene Infrastruktur wieder aufzubauen. Die USA – welche die unterlegene Kuomintang-Partei im chinesischen Bürgerkrieg unterstützt hatte – verweigern dem neu gegründeten kommunistischen Land Hilfe und Exporte. Mao und die KPCh wenden sich an den sowjetischen Nachbarn im Norden. Die Sowjetunion will China in den kommunistischen Block im Osten einbinden und geht mit dem Land eine Partnerschaft ein. Durch die Unterstützung soll die Wirtschaft Chinas wieder angekurbelt werden.
Von der Abhängigkeit zur Selbstständigkeit
Xia ist eng mit der chinesisch-sowjetischen Partnerschaft verbunden. Sie ist überzeugt, dass China nur durch Forschung und Entwicklung mit den anderen Nationen mithalten kann. 1953 wird sie in die Computer-Forschungsgruppe an der Chinesischen Akademie der Wissenschaften (CAS) aufgenommen. Sie ist eines der drei Gründungsmitglieder der ersten Computer-Forschungsgruppe Chinas. Die CAS wird zum Ursprung für Computertechnologie und Forschung. Xia ist mittendrin. Ihr Wunsch, das neue China mitzubestimmen, wird Realität.
Die Zusammenarbeit zwischen sowjetischen Experten, der KPCh und dem CAS trägt 1956 erste Früchte. Sie identifizieren die Computertechnologie als einen von vier Bereichen in Wissenschaft und Technologie, die für den Aufbau der nationalen Verteidigung Chinas von entscheidender Bedeutung sind.
Ein elektronischer Computer ist unabdingbar für die Entwicklung von Atomwaffen, Satelliten- oder Weltraumprogramme und die Verwaltung grosser komplexer Transportsysteme. Will China auf der globalen Bühne wirtschaftlich und militärisch wettbewerbsfähig sein, muss es in diese Bereiche vordringen. Die Sowjetunion, die USA und andere Mächte sind den Chinesen zu dieser Zeit jedoch weit voraus.
Chinas grösstes Problem: Das Fachgebiet Informatik gibt es im Land der Morgenröte nicht. Mathematiker, Ingenieure und Physiker drängen mit ihren Forschungen – aus je eigener Perspektive – ins Gebiet. Bevor ein Computer gebaut werden kann, muss zuerst das Fachgebiet etabliert werden.
Mit ihren Kenntnissen in Elektronik und Mathematik ist Xia die ideale Person. Sie wird die Computerwissenschaft in China begründen.
Nach einer Forschungsreise nach Moskau und Leningrad im Jahr 1956 übersetzt Xia das sowjetische Computerdesign ins Chinesische. Darunter auch ein Handbuch, das später zur Grundlage für die Computertheorie in China wird.
Im selben Jahr unterrichtet Xia den ersten Computertheoriekurs des Landes. Aus unser westlichen Perspektive unvorstellbar, dass ausgerechnet eine Frau so viel Einfluss hat. Sie hilft ebenfalls bei der Einrichtung einer Informatikabteilung am Institut für Computertechnologie (ICT). Auf das ICT folgt die Gründung der Universität der Wissenschaft und Technologie. Xia ist an der Entwicklung der Informatikkurse an beiden Institutionen beteiligt. Als Dozentin beaufsichtigt sie die Ausbildung von Hunderten von Studenten zwischen 1956 und 62. Xia gibt China das dringend benötigte Ausbildungsprogramm.
China gelingt es in den späten fünfziger Jahren, zwei sowjetische Computerentwürfe zu replizieren. Die Modelle 103 und 104 basieren auf den sowjetischen Computern M-3 und BESM-II. Auch an dieser Entwicklung ist Xia beteiligt. Gerade als China bei der Herstellung von Computern Fortschritte macht, droht sich die chinesisch-sowjetische Beziehung aufzulösen. Die Führer der beiden Länder kämpfen darum, wessen Nation das Zentrum der kommunistischen Welt ist und wessen Weg zum globalen Kommunismus der richtige ist.
1960 sind die Beziehungen beider Länder so schlecht, dass die Sowjetunion China jegliche materielle und beratende Unterstützung entzieht. Chinas Computerindustrie hört jedoch nicht auf zu existieren. Bei weitem nicht.
Denn bereits 1960 entwickelt Xia das Modell 107. Das Teil basiert im Gegensatz zu den Modellen 103 und 104 nicht auf dem sowjetischem Design. Es ist der erste einheimisch entworfene und entwickelte Computer Chinas. Der 107 wird in der Folge in Ausbildungseinrichtungen in ganz China installiert.
Die Mutter der Computerwissenschaften
Im Laufe der 1960er Jahre entwickelt China im CAS immer leistungsfähigere und ausgefeiltere Computer. Von Röhrencomputern, wie dem 107, zu Transistoren und in den 70er und frühen 80ern zu integrierten Schaltkreisen.
Während dieser Zeit setzt Xia ihre Forschung fort und bildet weiter junge Informatiker und Ingenieure aus. 1978 hilft sie bei der Gründung des Chinese Journal of Computers sowie des Journal of Computer Science and Technology, der ersten englischsprachigen Computerzeitschrift des Landes.
Es ist zu einem grossen Teil Xia zu verdanken, dass sich die Informatik in China zu einem eigenständigen Studienfach entwickelte und die Computerindustrie des Landes trotz des stürmischen Anfangs aufblühte. Viele ihrer Studenten haben später eigene Erfolge gefeiert. Ihr ehemaliger Student Weiwu Hu, der Chefarchitekt der Loongson-CPU, Chinas erster eigener CPU, nannte sie auch Xia-50.
Xia Peisu stirbt im Alter von 91 Jahren in Peking. In China gilt sie als Mutter der Computerwissenschaften. Die China Computer Federation verleiht jährlich den Xia-Peisu-Preis an Wissenschafterinnen und Ingenieurinnen für herausragende Beiträge und Leistungen in der Computerwissenschaft, in der Industrie, im Ingenieur- und Bildungswesen.
Technologie und Gesellschaft faszinieren mich. Die beiden zu kombinieren und aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten, ist meine Leidenschaft.