

Xiaomi Pocophone F1 im Test: Von wegen Flaggschiff-Killer

Xiaomi stellt unter der Marke Poco das Pocophone F1 vor und die Smartphone-Community dreht durch. Ich habe das Phone acht Tage getestet und kann sagen: Es kommt nicht an die Top-Phones heran. Dennoch ist das Pocophone auf jeden Fall einen Blick wert.
Es ist klar, was Xiaomi mit dem Pocophone F1 will: Ein Flaggschiff zum Kampfpreis, das die Konkurrenz blossstellt. Dafür sprechen die Specs: Snapdragon 845 Prozessor, 4000 mAh Akku, 6 GB RAM und dies zum Tiefpreis. Das tönt sehr vielversprechend – und ist eine Kampfansage derzeitigen Markt.

An den Test habe ich also hohe Erwartungen. Den ersten Dämpfer erhalte ich schon beim Auspacken des Phones: Der Gestank von Plastik schlägt mir ins Gesicht. Der Geschmack klebt auch am Phone und ist erst nach einem Tag verflogen.
Das Pocophone liegt gut in der Hand, mit 182 Gramm fühlt es sich aber ungewohnt schwer an. Und mit 8.8 mm Höhe ist es auch ziemlich dick geraten. Die Ränder um das Display sind auffällig gross. Kurzum: Das Pocophone kommt mir vor wie ein Klotz mit zu gross geratener Notch. Von Flaggschiffen bin ich mir anderes gewohnt.

Die Rückseite ist bei meiner Version aus mattem Plastik. Bei diesem Material siehst du keine Fingerabdrücke. Und die Rückseite ist schön verarbeitet. Auf den ersten Blick sieht das Plastik fast aus wie mattes Metall. Dafür hat Xiaomi den Fingerprint-Sensor gleich unter der Kamera platziert. Je nachdem, wie geschickt du bist und wie schnell du dich daran gewöhnst, hast du mehr oder weniger Fingerabdrücke auf der Kamera, die deine Bilder verschmiert aussehen lassen.

Der typische Sparkurs?
Den Kurs, den Xiaomi mit dem Pocophone hinlegt, erinnert an jenen anderer chinesischen Hersteller: Sie gründen eine Tochtermarke, die günstigere Phones nur online verkauft. So wie zuvor Huawei die Marke Honor gegründet hat. Oder OnePlus, die mit Oppo und Vivo unter einer Decke stecken. Xiaomi hatte vor Poco keine explizite Budget-Marke sondern allgemein günstige Geräte, insbesondere die Redmi-Reihe. Die Gründung einer neuen Marke, die mit Preis-Leistung die Konkurrenz unter Druck setzt, haben sie jetzt mit Pocophone nachgeholt.
Du merkst aber schnell, dass am Pocophone Abstriche gemacht worden sind. So ist das Phone nicht wasserdicht, hat kein OLED-Display, dafür aber einen Klinkenstecker und den aktuell neuesten Prozessor verbaut. Diese drei Dinge treffen ebenfalls auf das neuste Handy aus dem Hause Honor, dem Honor Play zu.
Weiter haben die Budget Phones meist ein sogenanntes Corning Gorilla Glas verbaut. Das Glas ist weder bei Pocophone noch Honor weiter spezifiziert – hat also weder ein Siegel noch Qualitätsmerkmale. Bei meinem letzten Honor Phone ist dieses Gorilla Glas bei einem Sturz aus nur einem halben Meter zu einem Spinnennetz aus Splittern geworden.
Das Display ist ein IPS LCD. Kein OLED, was aber niemanden erstaunt, bei dem Preis. Was eher wieder speziell ist, ist das Seitenverhältnis von 18,7:9. Gestört hat mich das aber nicht. Allerdings nervt mich, dass das Phone draussen an der Sonne extrem spiegelt, was aber am Glas, und nicht am Display liegt.
Xiaomi hat dem Pocophone Bluetooth 5.0 spendiert. In den Entwickleroptionen hast du wie üblich die Wahl zwischen den Audio-Codecs AAC, aptX oder aptX HD . Schön ist, dass oben am Phone ein Kopfhörer-Jack ist. Dafür sind die Stereo-Lautsprecher für nichts. Wenn ich das überhaupt Stereo nennen darf, denn Stereo bedeutet bei Poco, dass Musik unten aus dem einten Lautsprecher und oben aus dem anderen Mini-Lautsprecherli an der Notch kommt. Wobei der obere nicht mal halb so laut ist. Wie das Ganze klingt, kannst du dir sicher vorstellen.
NFC wegrationalisiert
Das Pocophone hat kein NFC. NFC steht für Near Field Communication, also Nahfeldkommunikation. Das Fehlen dieser Funktion hat mich gleich nach dem Auspacken genervt, denn ich übertrage gerne meine Daten – oder zumindest ein Teil davon – auf diese Weise auf ein neues Phone.
Bargeldlos bezahlen kannst du mit dem Pocophone nur mit Apps, die ohne NFC funktionieren. Twint wäre momentan noch eine davon.
Netflix ohne HD
Mit dem Pocophone kannst du Netflix nicht in HD-Auflösung gucken. Die Auflösung geht nur bis 540p. Der Grund dafür ist aber nicht, weil Xiaomi da sparen wollte, sondern weil der Kopierschutz Widevine L1 fehlt. Widevine ist eine DRM-Plattform. DRM steht für Digital Rights Management, also ein Dienst, der dazu da ist, um das unberechtigte Kopieren von Videodaten zu verhindern. Google Play Movies und Amazon nutzen den DRM-Dienst ebenfalls.
Widevine ist in drei Stufen unterteilt: L1, L2 und L3. Das Pocophone hat nur die niedrigste Stufe L3, erreicht. Um in HD streamen zu können, braucht es die L1-Spezifikation. Und um L1 zu erfüllen, muss das Gerät durch Google zertifiziert sein. Die Zertifizierung untersteht keiner Lizenzgebühr.
Wenn ich pendle, gucke ich oft Netflix. Und ich merke den Unterschied nicht. Das liegt sicher auch daran, dass im Zug alles ruckelt und die Sonne aufs Display scheint. Auch wenn ich im Büro den direkten Vergleich mache, erkenne ich keinen Unterschied. Auf einem Fernseher würde eine so geringe Auflösung sofort auffallen, keine Frage. Bei dem kleinen Smartphone Display geht’s auch ohne HD.
Hier kannst du selbst vergleichen. Oben ist die HD-Auflösung des HTC U12+ und unten die SD-Auflösung des Pocophone.
Ich verstehe aber den Aufschrei, der in der Community stattgefunden hat. Streaming ohne HD ist nicht zeitgemäss.
Auch Huawei hatte das Widevine-Problem beim MediaPad M5. Dort konnte aber via Update verspätet die L1-Zertifizierung erreicht werden. Andere Phones wie das Mi Mix 2 und das Mi 6 haben auch kein L1, sowie auch das Oneplus 5 und 5t.
Ja, es ist schnell
Der Qualcomm Snapdragon 845 Prozessor und die 6 GB RAM sprechen für sich. Das Pocophone ist schnell. Apps sind schnell geöffnet, Tabs sind schnell gewechselt. Es funktioniert. Es ist schnell. Abstürze hatte ich in meiner Testzeit keine. Ruckler auch nicht.
Auch der Fingerprint auf der Rückseite reagiert schnell und es kommt nur äusserst selten vor, dass er nicht beim ersten Versuch funktioniert. Als es im Büro Buttergipfeli gab, konnte ich das Poco auch mit Fett-Finger entsperren.
Die Gesichtserkennung gibt mehr zu meckern. Zuerst, weil sie gar nicht da war. Um sie zu nutzen, kannst du bei der Region-Einstellung – das Phone fragt dich bei der ersten Inbetriebnahme danach – nicht die Schweiz wählen.
Nachträglich unter Einstellungen, dann weitere Einstellungen (unter System und Gerät zu finden), kannst du die Region aber einfach ändern. Dann darfst du die Gesichtserkennung auch hierzulande nutzen. Ich habe als Region Indien gewählt. Bis zum Abschluss des Tests habe ich dadurch keine Probleme oder Nachteile gekriegt, das Phone lässt sich in allen Sprachen nutzen. Falls ich noch etwas finden würde, das nicht passt, werde ich es als Update im Artikel anmerken.

Im Dunkeln funktioniert die Gesichtserkennung mal besser, mal schlechter. Wenn es ganz dunkel ist, schlechter. Der Hersteller spricht von Infrarot-Kameras und -Sensoren. Mir kommt es eher so vor, als ob die Gesichtserkennung im Dunkeln nur funktioniert, wenn das Gesicht genügend vom Display beleuchtet ist. Wenn die Erkennung funktioniert, funktioniert sie aber wirklich verzögerungsfrei und schnell.
Der 4000 mAh grosse Akku hält entsprechend lange. Ich bin zwei Tage mit einer Ladung durchgekommen, wobei ich gegen Ende des zweiten Tages den Energiesparmodus einschalten musste. Zum Glück hat das Poco Quick Charge 3.0, ansonsten würde es ewig dauern, den grossen AKku zu laden. Eine ganze Schnellladung braucht bei mir knapp zwei Stunden, wobei sich dieser Wert aber nach etwa zehn Ladungen noch nach unten verbessern könnte.
Was mich erst etwas irritiert hat: Die Benachrichtigungsleuchte – die sich auch beim Laden einschaltet – befindet sich unter dem Display. Nicht wie sonst in der Notch. Das hat dazu geführt, dass ich im Dunkeln aus lauter Gewohnheit ständig das Phone verkehrt herum halte.
Kamera ist okay, AI wirft Fragen auf
Das Pocophone ist mit einer 12 und einer 5 Megapixel-Kamera ausgerüstet. In der Hauptlinse verbaut Poco einen 1.4 μm Pixel-Sensor. Als Vergleich: Das Mi 8 hat ebenfalls 1.4 μm grosse Pixel, das Huawei P20 Pro 1.55 μm grosse. Dennoch sind bei der Kamera im Vergleich zum Mi 8 viele Abstriche gemacht worden. So gelingen Low Light Aufnahmen nicht. Das wird daran liegen, dass Poco keinen optischen Bildstabilisator (OIS) verbaut hat. Nur EIS für Videos ist dabei. Mit einer Lichtstärke von f/1.9 und f/2.0 steht die Kamera des Pocophones der des Mi 8 ebenfalls nach.
Auf der Homepage macht Poco gross Werbung für ihre AI Kamera. Vergleichsbilder mit deutlichen Unterschieden zwischen Bildern mit AI und Bildern ohne AI werden gezeigt. Nun, ich kann bei meinen Bildern keinen grossen Unterschied erkennen, ob das Bild mit oder ohne AI gemacht wurde.


Das einzige, das auffällt ist, dass das Bild mit AI minimal weniger Gelbstich hat und der Himmel weniger gesättigt ist, beziehungsweise etwas heller ist.
Im Unterschied zu Huaweis KI ist hier nicht klar, was die AI überhaupt macht. Die eingeschaltete AI sagt mir meistens, dass ich Wolken fotografiere. Ab und an erscheint auch ein Sonnen-Zeichen. Aber optimiert wird nichts.
Im Portrait-Modus, den du für den Bokeh-Effekt brauchst, lässt sich die AI nicht einschalten. Der Bokeh-Effekt wird mal besser, mal weniger gut. Auch im normalen Modus erhältst du meistens ein wenig Bokeh-Effekt. Das Phone lässt dich auch in HDR fotografieren. Unterschiede zu normalen Bildern sind aber auch hier nicht wirklich zu erkennen.
Zusammengefasst kann ich über die Kamera sagen, dass sie dir bei gutem Licht gute Bilder macht und bei schlechten Lichtverhältnissen schlechte Bilder.
Immerhin, wenn du in die Bilder reinzoomst, ist die Auflösung noch einigermassen okay und Poco verzichtet hier aufs Weichzeichnen, wie zum Beispiel Honor es tut. Dadurch kommen die Details gut heraus.


Die Selfiekamera hat 20 Megapixel, was recht vielversprechend ist. Wichtig ist einfach, dass du vor dem Abdrücken den Modus «verschönern» komplett ausschaltest. Mit dem Verschönern siehst du aus wie eine gruselige Puppe, und nicht mehr wie du selbst.
Ansonsten kommen Selfies meistens gut raus.
MIUI – ein Katzenjammer
Beim Pocophone hat Poco seine MIUI-Oberfläche über Android gelegt. Über MIUI dann noch den Poco-Launcher. Das Ganze nennt sich MIUI 9.6 for Poco. Ich mag es nicht.
Der App Drawer sieht eigentlich in den Videos von Poco India spannend aus. Vor allem, dass sich die Apps im Drawer verbergen lassen und zum Beispiel nach Unterhaltungs-, Kommunikations- und Lifestyleapps gefiltert werden kann. Nun, bei mir funktioniert das nicht. Wieso auch immer. Ich habe mehrere Regionen durchprobiert, nach Updates gesucht und die verschiedenen Themen durchprobiert. Hat nicht geholfen, der App Drawer bleibt wie er ist, mit allen Apps und ohne Sortierung. Falls du ein Pocophone hast und das bei dir funktioniert, lass es mich doch in den Kommentaren wissen.
Update 18.09.2018: Die Sortierung und die Filterung funktionieren nun bei mir auch.
MIUI will ganz speziell sein. So speziell, dass sie nicht davor zurückschrecken, die Zurück-Taste und die Menü-Taste zu vertauschen. Sie nennen das Spiegeltasten. Du kannst es zum Glück deaktivieren. Standardmässig war es bei mir aber verkehrt herum drin.
MIUI und Benachrichtigungen sind bei mir jetzt ein schwieriges Thema. Es beginnt damit, dass sich der Akkustand nicht in Prozent anzeigen lässt. Weiter kannst du in der oberen Benachrichtigungsleiste nur elf Toggles anzeigen. Eine zweite Seite gibt’s nicht und du kannst auch keine weiteren Icons hinzufügen. Nur verschieben kannst du sie.
Notification Icons, etwa für Whatsapp gibt’s in der Statusleiste (also in der Leiste neben der Uhrzeit, der Netzverbindung usw) nicht. Wahrscheinlich weil die Notch zu breit geraten ist. In der Benachrichtigungsleiste zeigt mir MIUI zudem Whatsapp-Benachrichtigungen immer zuunterst an, obwohl ich diese priorisiert habe. Auch werden Benachrichtigungen von denselben Apps meist nicht zusammengefasst, sondern einfach wild zerstreut irgendwie angezeigt.

Aber immerhin: Xiaomi hat versprochen dass bis Ende Jahr Android Pie auf das Pocophone kommt. Und die Sicherheitsupdates sind bei Abschluss des Artikels auf dem Stand 1. Juli. Das ist okay.
Prozessor gut, alles gut?
Das Pocophone ist ein sehr günstiges Handy mit einem Prozessor aus der Oberklasse. Ein guter Prozessor allein macht ein Phone aber noch nicht zu einem Flaggschiff.
Um ein Flaggschiff zu sein, fehlt dem Pocophone zu viel.
Die Verarbeitung müsste schöner sein, der Rand kleiner und die Notch nicht so gross. Mit MIUI for Poco hat Xiaomi zwar extra ein eigene Oberfläche erstellt, ob das aber Sinn macht, sei dahingestellt.
Das Pocophone räumt in der Mittelklasse ab. Wenn du ein Phone aus der Klasse willst, empfehle ich dir das Pocophone. Denn so viel Leistung für so einen kleinen Preis findest du sonst kaum. Aber um ein Flaggschiff zu sein, sind am Pocophone zu viele Abstriche gemacht worden. Das Pocophone kommt nicht an die Phones der Oberklasse heran.


Experimentieren und Neues entdecken gehört zu meinen Leidenschaften. Manchmal läuft dabei etwas nicht wie es soll und im schlimmsten Fall geht etwas kaputt. Ansonsten bin ich seriensüchtig und kann deshalb nicht mehr auf Netflix verzichten. Im Sommer findet man mich aber draussen an der Sonne – am See oder an einem Musikfestival.