171 Kilometer und jede Menge Adrenalin: Im Teamfahrzeug vom Q36.5 Pro Cycling Team an der Tour de Suisse
Es beginnt gemütlich, wird kurzfristig hektisch, bevor es am Ende schweisstreibend zum Gotthardpass hinauf geht. Ich begleite den sportlichen Leiter des Q36.5 Pro Cycling Teams auf einer Etappe der Tour de Suisse. Nach 171 Kilometern im Teamfahrzeug bin ich fix und fertig.
«Ein starker Magen schadet hier nicht», schiesst es mir durch den Kopf. Zum Glück bin ich mit einem solchen ausgestattet, denn ich werde ihn heute noch brauchen. Ich sitze im Teamfahrzeug des Schweizer Q36.5 Pro Cycling Team auf der vierten Etappe der Tour de Suisse Richtung Süden. Am Steuer ist der sportliche Leiter des Teams, Alex Sans Vega, und drückt aufs Gaspedal. Auf der Rückbank hat Mechaniker Cédéric Stähli Platz genommen und mit ihm jede Menge Ersatzräder. Die kommen heute jedoch nur kurz vor dem Start zum Einsatz. Aber der Reihe nach.
Für alles gibt es ein erstes Mal: für den ersten Kuss, den ersten Liebeskummer, die erste Tour de Suisse. Mein erstes Mal war dieses Jahr. Im Ziel der zweiten Etappe in Regensdorf stand ich fasziniert neben der Ziellinie und fieberte der Ankunft des Pelotons entgegen. Meine Eindrücke dazu? Voilà.
Geht es noch besser? Ja, und wie!
Einmal hinauf zum Gotthardpass bitte!
Sieben Fahrer aus fünf Nationen fahren dieses Jahr für das Q36.5 Pro Cycling Team die Tour de Suisse. Begleitet werden sie während der acht Etappen von 20 Staffmitgliedern, 21 Strassenrädern, sieben Zeitfahrmaschinen und rund sieben Tonnen weiterem Material. Mehrere Begleitfahrzeuge und der Mannschaftsbus transportieren Mensch und Material während der acht Etappen kreuz und quer durch die Schweiz. Eine logistische Herausforderung und Meisterleistung.
Auf der vierten Etappe hinauf zum Gotthardpass (am Mittwoch, 12. Juni), sind es 28 Menschen, die sich von Rüschlikon aus Richtung Süden auf den Weg machen. Im Rahmen einer Galaxus-Themenwoche hatte ich einen Beitrag zur Eigenbluttherapie bei Arthrose realisiert. In der Zürcher Alphaclinic behandelt der Orthopäde Dr. med. Marcel Gloyer Patientinnen und Patienten mit dieser Therapie.
Darüber hinaus arbeitet der Facharzt für Orthopädie und Traumatologie des Bewegungsapparates als einer der Teamärzte für die Schweizer Radsportmannschaft. Auf seine Einladung hin stehe ich kurz vor dem Start in Rüschlikon mit grossen Augen und ein wenig feuchten Händen beim Mannschaftsbus. Vor den Athleten liegt die erste Bergetappe mit Ankunft auf dem Gotthardpass. Vor mir eine streckenweise wilde Autofahrt über rund 170 Kilometer.
Business as usual
Vor dem Start läuft im Team alles sehr ruhig und professionell ab. Die Mechaniker stellen die Räder bereit, im Teambus wird nochmals die Taktik für den Tag besprochen (mehr dazu später), einzelne Fahrer machen sich auf der Rolle warm. Es riecht stark nach «Business as usual». Wie es aussieht, bin nur ich nervös, schliesslich hatte ich noch nie die Gelegenheit, so hautnah bei einem Profi-Radteam zu sein. Und werde diese Chance vermutlich auch nie mehr bekommen.
Nach der obligaten Teampräsentation fällt um 12.30 Uhr zunächst der virtuelle Startschuss. Und kurz davor kommt es im Team zum einzigen Defekt des Tages, zumindest dem einzigen, den ich mitbekomme. Ein Fahrer hat einen platten Hinterreifen. Der Mechaniker wechselt das Rad, und los geht die Etappe. «Lieber so, als während des Rennens», sagt Cédéric Stähli.
Hektische Startphase
Nach zweieinhalb neutralisierten Kilometern gibt die Rennleitung die Etappe frei. Das Motto lautet: Achtung, fertig, los. Die erste Stunde des Rennens ist hektisch und mit rund 43 zurückgelegten Kilometern ultraschnell. Und das, obwohl schon auf den ersten Kilometern einige Steigungen zu bewältigen sind. Wie ihre Taktik für den heutigen Tag aussieht, will ich von Alex Sans Vega wissen.
Der Schweizer Matteo Badilatti versucht in der Folge zweimal vergeblich die richtige Fluchtgruppe zu erwischen. Pech fürs Team: Beim dritten Anlauf klappt es und einige Fahrer können sich absetzen – ohne Beteiligung des Q36.5 Pro Cycling Teams. Sehr zum Missfallen des sportlichen Leiters.
Die Ruhe vor dem Anstieg
Danach kehrt – zumindest taktisch – Ruhe ein. Das Feld lässt die Fluchtgruppe gewähren, der Vorsprung beträgt maximal knapp sieben Minuten. Langsamer wird das Rennen allerdings keineswegs: In der zweiten Rennstunde legen die Fahrer sagenhafte 47,9 Kilometer zurück. Ich meine mich noch dunkel an Zeiten erinnern zu können, wo sowas Stundenweltrekord auf der Bahn gewesen wäre. Tempi passati.
Im Hier und Jetzt lässt es der Rennverlauf immer mal wieder zu, mit Alex Sans Vega und Cédéric Stähli über den Radsport abseits des aktuellen Geschehens zu reden. Alex kommt aus Barcelona und war schon beim Vorgängerteam von Q36.5, Dimension Data, tätig. Seine Mannschaft befände sich noch in einer Art Findungsphase. Viele Fahrer mussten in kurzer Zeit verpflichtet werden, daher fehle es noch ein wenig an einer klaren Teamidentität. «Daran müssen wir noch arbeiten», sagt er dazu.
Cédéric wollte ursprünglich Automechaniker werden, um in der Formel 1 zu arbeiten. Nach einer Schnupperlehre entschied er jedoch, dass das nichts für ihn sei. «Böse gesagt, schliesst du da den Computer ans Fahrzeug an, der analysiert, was kaputt ist, und du wechselst es aus. Das hat mir nicht so gefallen.» Also wurde er Velomechaniker. Nach der Lehre und diversen Engagements bei kleineren Teams arbeitete der Basler für Swiss Cycling und Tudor. Und nun für das Q36.5 Pro Cycling Team.
Was die Highlights seiner bisherigen Karriere sind, will ich von ihm wissen. «Unter anderem sicherlich die Zusammenarbeit mit Marlen Reusser im Rahmen der Olympischen Spiele in Tokio». Dort gewann die 33-Jährige die Silbermedaille im Einzelzeitfahren.
Und nach der Tour de Suisse? «Als nächstes stehen die Deutschen und die Schweizer Meisterschaften im Zeitfahren und auf der Strasse an. Und dann arbeite ich an der WM im September in Zürich für Luxemburg.» Das Velomechaniker-Business ist international. Unterdessen nähern wir uns Altdorf und die Fahrer verlangen nach Verpflegung.
Plan B
Nachdem es keiner seiner Fahrer in die Fluchtgruppe geschafft hat, ruft Alex Plan B aus. Die Mannschaft soll den Rückstand zu den Ausreissern möglichst verkleinern und sich mit den beiden Fahrern fürs Gesamtklassement, Matteo Badilatti und David de la Cruz, im Ranking am Ende des Tages nach vorne arbeiten. Man spürt, dass der Druck auf das Schweizer Team, an der heimischen Rundfahrt gute Resultate zu liefern, gross ist. Mittlerweile sind wir in Altdorf.
Hier beträgt der Rückstand des Feldes auf die Spitzengruppe immer noch rund sechs Minuten. Über den Teamfunk informiert Alex seine Fahrer und fordert sie auf, den Abstand weiter zu verringern. Bis zum Fuss des Gotthards wird seine Mannschaft von maximal sieben Minuten Rückstand, die Hälfte aufgeholt haben.
Neben dem internen Funk hören wir den ganzen Tag den Tourfunk mit. Hier werden die sportlichen Leiter sämtlicher 24 Teams permanent über Rückstände, technische Defekte, Stürze und Aufgaben informiert. Verlangt zum Beispiel ein Fahrer im Feld nach seinem Mannschaftswagen, wird das über diesen Kanal kommuniziert und der sportliche Leiter fährt nach vorne. Jedes Teamfahrzeug fährt gemäss der Rangliste der Mannschaftswertung in der Kolonne. Wir sind heute auf Position 17 unterwegs. Nach jeder Aktion hat sich der sportliche Leiter wieder an seinem Platz einzuordnen.
Multitasking auf höchstem Niveau
Alex Sans Vega fährt das Auto, verpflegt die Fahrer, hört den Tourfunk und gibt diese Informationen über den Teamfunk an seine Fahrer weiter. Dann hat er auf einem Tablet eine App, auf der er sämtliche Infos zur Strecke sieht. Auch diese Infos gibt er per Funk weiter. «Die Steigung geht nun die nächsten zwei Kilometer so weiter, dann wird es während drei Kilometern flach, bevor es auf den folgenden 4,5 Kilometern sehr steil wird.» Dann bedient er noch einen dritten Funk, über den er mit dem zweiten sportlichen Leiter des Teams kommuniziert oder mit den Helfern, die an den Verpflegungsstellen auf die Fahrer warten. «Bei Kilometer 61,5 bekommt ihr eure Musettes.» Und schliesslich hat er auch noch eine Liste auf den Knien mit den Startnummern sämtlicher Fahrer.
Ach ja, und auf dem Smartphone an der Windschutzscheibe läuft die Direktübertragung des Rennens auf SRF. Ich habe keine Ahnung, wie Alex das alles auf einmal in seinem Hirn verarbeitet. Habe jedoch höchsten Respekt vor dieser Leistung. Ob er sich an seinen ersten Einsatz als sportlicher Leiter eines Teams erinnern kann, frage ich ihn. «Ja, ich war nach dem Rennen komplett fertig, kam ins Hotel und fiel ins Bett.»
Auf dem Dach der Tour de Suisse 2024
Nach 171 Kilometern und dem rund 33 Kilometer langen Aufstieg mit durchschnittlich knapp sieben Prozent Steigung erreichen die Fahrer nach viereinhalb Stunden das Ziel auf dem Gotthardpass. Es wird nichts mit einem Etappensieg für das Q36.5 Pro Cycling Team. Und auch Matteo Badilatti und David de la Cruz können sich im Gesamtklassement nicht entscheidend verbessern. Beide liegen nach der ersten Bergankunft mit je über zwei Minuten Rückstand ausserhalb der Top 20.
Auch für den Teamarzt ist es ein ruhiger Tag. Die Fahrer waren vor der Etappe alle fit, und es gibt auch während der Etappe keine medizinischen Probleme oder Stürze. «Das Beste für alle ist, wenn ich nichts zu tun habe», sagt Dr. med. Marcel Gloyer im Ziel. Bei einem Sturz oder gesundheitlichen Problemen während der Etappe begleitet das medizinische Team die Fahrer ins Spital und organisiert eine schnelle und professionelle Behandlung entweder vor Ort oder bei internationalen Spezialisten.
Die Etappe geht übrigens solo an den Norwerger Torstein Træen (Bahrain Victorious), der seinen ersten Sieg auf höchster Rennstufe feiert. Noch eine Première.
Epilog
Nach einem langen, aufregenden Tag voller Eindrücke und Adrenalin bin ich zurück zu Hause. Und falle todmüde ins Bett. Dabei habe ich den ganzen Tag mehr oder weniger auf dem Beifahrersitz verbracht. Ich denke an die Leistung der Fahrer und auch jene von Alex und Cédéric, der vermutlich noch immer in der Werkstatt steht und die Räder für den nächsten Tag auf Vordermann bringt. Dann falle ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Vom Radiojournalisten zum Produkttester und Geschichtenerzähler. Vom Jogger zum Gravelbike-Novizen und Fitness-Enthusiasten mit Lang- und Kurzhantel. Bin gespannt, wohin die Reise noch führt.