
Apple TV+: Was wurde aus dem teuersten Streaming-Experiment der Welt?
Serienhits, Kino-Flops und über eine Milliarde Dollar Verlust pro Jahr: Apple TV+ bleibt ein Rätsel. Ich habe mir meine eigenen steilen Thesen von 2019 noch einmal zur Brust genommen – und bin überrascht, wie richtig ich lag.
Sechs Jahre ist es her, da habe ich zum Launch des neuen Streamingdienstes aus Cupertino, Kalifornien, eine steile These aufgestellt: Apple TV+ sei kein echter Streamingdienst, sondern «das teuerste Kundenbindungsprogramm aller Zeiten» – ein als Netflix-Klon getarntes Verkaufswerkzeug für iPhones und Co.
Damals haben mich einige belächelt. Jetzt meldet MacRumors unter Berufung auf einen Artikel von The Information: Apple TV+ mache jährlich über eine Milliarde Dollar Verlust – als einziger Apple-Service. Klingt nach einem Haufen Zaster. Und trotzdem: Die Kalifornier ziehen ihr Prestigeprojekt unbeirrt durch. Warum? Weil es nie ums Geldverdienen ging. Sondern um Macht, Markenbindung und Kontrolle.
Kurz gesagt: Ich hab’s ja gewusst. Inwiefern, schauen wir uns jetzt Punkt für Punkt an. Und ja – auch einfach mal Eigenlob verteilen.
Anmerkung: Die Zitate stammen aus meinem Artikel von 2019, in dem ich den Start von Apple TV+ kritisch begleitet habe. Einige davon habe ich leicht gekürzt oder sinngemäss umformuliert und verdichtet.
Apple TV+: ein Streamingdienst, der gar keiner sein will
«Apple TV+ ist das teuerste Kundenbindungsprogramm aller Zeiten – ein als Netflix-Klon getarnter Verkaufsverstärker für iPhones und Co.»
Heute: Mit dieser Einschätzung bewegte ich mich damals irgendwo zwischen frechem Kommentar und halber Verschwörungstheorie. Aus heutiger Sicht war sie prophetisch – auch wenn Apple laut MacRumors offenbar gar nicht klar belegen kann, ob Apple TV+ tatsächlich den Absatz von iPhones, iPads oder Macs beeinflusst. Und doch spricht alles dafür, dass der Dienst genau diesen Effekt haben sollte:
- Von Beginn an wurde Apple TV+ massenhaft für ein ganzes Jahr verschenkt, und zwar an alle, die ein neues Apple-Gerät kauften.
- Heute hingegen kommen die meisten Nutzenden über Apple One zu Apple TV+. Apple One ist übrigens Apples Service-Bundle, das unter anderem iCloud+, Music, Arcade, Fitness+ und eben Apple TV+ kombiniert.
- Der Streamingdienst ist also ein goldenes «Add-on» im Apple-One-Gesamtpaket, das Kunden binden soll, kein eigenständiger Umsatzbringer.
- Auch Apple selbst betont in seinen Quartalszahlen nie die Performance von Apple TV+, sondern die Wachstumsrate des gesamten Service-Segments.
- Und dieses Segment hat 2024 rund 96 Milliarden US-Dollar Umsatz gemacht.
- Apple TV+ ist da zwar der verlustbringende Fisch im grossen Service-Teich – aber einer mit ziemlich schimmernden Schuppen, wenn es um Image, Exklusivität und mediale Strahlkraft geht.
Apple misst den Erfolg also nicht an Profiten, sondern an Wirkung: Wer Apple TV+ schaut, bleibt im Ökosystem. Wer Apple One nutzt, kündigt nicht so schnell. Und wer eine hochwertige Serie wie «Severance» oder «Silo» sieht, verbindet sie mit einem hochwertigen Gerät. Das ist kein Zufall – das ist Strategie.
✅ These bewahrheitet – auch wenn Apple bis heute nicht sagen kann (oder will), ob es funktioniert.
Qualität statt Quantität
«Apple setzt nicht auf Masse wie Netflix oder Disney+, sondern auf wenige, dafür besonders hochwertige Eigenproduktionen. Klasse statt Masse – Qualität als Alleinstellungsmerkmal.»
Heute: Jep, Apple TV+ besitzt tatsächlich den wohl kleinsten Katalog aller grossen Streamingdienste. Laut der Datenanalysefirma JustWatch zählt Apple TV+ gerade einmal 275 Eigenproduktionen. Zum Vergleich: Netflix veröffentlichte allein im Jahr 2023 über 1000 Original-Serien und -Filme und hat aktuell 7183 Eigenproduktionen. Das ist Content-Buffet vs. Kurations-Bistro.
Die Strategie, bewusst auf wenige, dafür besonders hochwertige Produktionen zu setzen, zeigte sich jedoch erstaunlich wirksam:
- Bereits 2022, im dritten Jahr nach dem Start, gelang Apple TV+ mit «Coda» ein historischer Meilenstein: Apple gewann als erster Streamingdienst überhaupt den Oscar für den besten Film. Netflix rollt sich dagegen noch vergeblich den roten Teppich aus, trotz einiger Nominierungen.
- Serien wie «Ted Lasso», «Severance» und «Slow Horses» erhalten Top-Kritiken, tauchen regelmässig in Bestenlisten auf – und sorgen dafür, dass Apple TV+ im Gespräch bleibt, auch wenn es nicht täglich im Feed der Massen auftaucht.
- Laut Parrot Analytics erreichte Apple TV+ vergangenes Jahr erneut eine der höchsten Nachfragen pro Titel («Demand-per-Title») im gesamten Streamingmarkt. Oder einfacher gesagt: Jede Serie von Apple TV+ zieht im Schnitt mehr Aufmerksamkeit auf sich als das nächste Crime-Drama mit acht Staffeln auf Prime Video.
Aber: Diese Strategie hat ihren Preis. Wörtlich. Vielen ist das Angebot schlicht zu klein, um dauerhaft zu bleiben. Ende 2024 lag Apple TV+ bei etwa 45 Millionen zahlenden Nutzenden. Netflix hat inzwischen über 300 Millionen, Disney+ kratzt an 155 Millionen – und schreibt seit Kurzem sogar Gewinn.
✅ These bewahrheitet: mit Einschränkungen bei der Wirtschaftlichkeit.
Blockbuster, die (höchstwahrscheinlich) keiner schaut
«Apple will mit hochwertigem Content nicht nur Serien, sondern auch Filme produzieren – und damit im Kino mitspielen. Das dürfte eher Prestige als Profit bringen.»
Heute: Inzwischen hat Apple seine Kino-Ambitionen ordentlich hochgeschraubt – und genauso ordentlich draufgezahlt. Die Idee: Blockbuster mit Hollywood-Stars drehen, ins Kino bringen, damit Preise gewinnen … und am Ende die eigene Plattform stärken. Doch bislang ging der Plan eher nach hinten los:
- Die Agentenkomödie «Argylle» von «Kingsman»-Regisseur Matthew Vaughn floppte krachend. Sowohl an den Kinokassen als auch in den Kritiken (Rotten Tomatoes: 33 Prozent). Das Schlamassel konnten selbst Henry Cavill, Dua Lipa und ein 200-Millionen-Dollar-Budget nicht retten.
- Ridley Scotts «Napoleon» lief besser, aber blieb inhaltlich ebenfalls unter den Erwartungen – und verschwand nach kurzem Kinoeinsatz relativ geräuschlos auf Apple TV+.
- Auch Martin Scorseses «Killers of the Flower Moon» brachte zwar Prestige, aber trotz Oscar-Nominierungen für Scorsese und Robert De Niro keine klare Antwort auf die Frage: Wer schaut diese Filme auf Apple TV+ überhaupt?
Anders als bei Netflix oder Disney+ liefert Apple keine konkreten Zuschauerzahlen. Und während der Hype um Serien wie «Ted Lasso» deutlich spürbar ist, verpuffen die Filme oft lautlos auf der eigenen Streaming-Plattform, trotz Kinorelease und teurer Werbekampagnen. Mal ehrlich: Sagt dir «Fly Me to the Moon» überhaupt was?
Was bleibt, ist der Eindruck, dass Apple unbedingt in der Welt des «grossen Kinos» mitspielen will – nur schaut niemand so genau hin.
✅ These bewahrheitet: Das Prestige ist da, der Profit bisher nicht.
Milliardenverluste – geplant oder gefährlich?
«Sobald sich Apple seines Kundenstammes sicher genug ist, werden die Preise erhöht, um in die Profit-Zone zu kommen. Apple spielt hier ein langfristiges Spiel.»
Heute: Tja, das langfristige Spiel läuft immer noch, aber finanziell gleicht es derzeit eher einem teuren Hobby, trotz fast verdoppelten Abopreis seit dem Start. Wie gesagt, laut MacRumors macht Apple TV+ jährlich über eine Milliarde Dollar Verlust. Zum Vergleich: Die anderen Dienste wie iCloud+, Apple Music oder der App Store sind mit Gewinnmargen von bis zu 75 Prozent Apples stabilste Geldbringer – neben dem iPhone.
Trotzdem scheint intern niemand in Panik zu verfallen. Zumindest nicht öffentlich:
- Bereits beim Start kalkulierte Apple laut MacRumors mit Verlusten von bis zu 20 Milliarden Dollar über die ersten zehn Jahre.
- Das aktuelle Minus liegt also sogar unter Plan – gewissermassen ein kontrollierter Blutverlust.
- Apple kann es sich leisten: Der Konzern machte allein im Geschäftsjahr 2024 über 100 Milliarden Dollar Gewinn. Die rote Milliarde bei Apple TV+ fällt da kaum ins Gewicht – buchhalterisch gesehen also eher ein teurer Imagefilter als ein echtes Problem.
Wirklich ungemütlich wird es nur dann, wenn dieser Filter keine Strahlkraft mehr entfaltet. Tim Cook selbst soll laut MacRumors mehr Kontrolle über die Ausgaben verlangt haben. Auch First-Class-Privatjets für Hollywoodstars stehen nicht mehr unbegrenzt im Budget – und Apple-TV+-Chef Peter Stern hat 2023 frustriert das Handtuch geworfen.
🟡 These teilweise bewahrheitet: Apple hat die Preise zwar erhöht, aber ist offensichtlich noch nicht profitabel und kalkuliert weiterhin mit Verlusten.
Was wirklich «Erfolg» für Apple bedeutet
«Apple muss gar nicht wissen, wie viele Leute Apple TV+ nutzen – solange der Dienst dabei hilft, mehr iPhones zu verkaufen.»
Heute: Genau das scheint tatsächlich der Fall zu sein. Denn wie MacRumors ja wissen will, konnte Apple in den ersten Jahren gar nicht verlässlich sagen, ob Apple TV+ überhaupt irgendetwas bringt – weder beim Geräteverkauf noch bei der Markenbindung.
- Interne Daten dazu, ob Apple TV+ Kundinnen und Kunden dazu motiviert, ein iPhone zu kaufen? Fehlanzeige, zumindest in der Öffentlichkeit.
- Klare Zielvorgaben, wie viele Abos der Dienst erreichen oder wie hoch die Verweildauer sein sollte? Ebenfalls nicht kommuniziert.
- Messgrössen, die Apple-typisch mit Liebe zum Detail optimiert werden könnten? Offensichtlich zweitrangig.
Laut dem Bericht hatte Apple in den ersten Jahren nicht einmal einheitliche Kennzahlen für Apple TV+. Eddy Cue, Apples Services-Chef, habe sich lange gegen ein zu enges Controlling gewehrt – vermutlich, um dem Team kreative Freiheit zu lassen. Oder anders gesagt: Man liess die Streamingabteilung vermutlich einfach mal machen … und hoffte, dass irgendwas Gutes draus wird.
Was das heute bedeutet? Schwer zu sagen. Zwar kennt Apple intern mittlerweile bestimmt mehr Zahlen, aber öffentlich gibt es weiterhin keine konkreten Nutzungszahlen, keine Zuschauerinnen- und Zuschauer-Rankings und keine Verweildauerstatistiken. Wir wissen also schlichtweg nicht, wie viele Menschen sich «Severance» wirklich anschauen. Oder «Argylle». Oder überhaupt irgendwas.
✅ These bewahrheitet: Apple misst offenbar … wenig. Oder zumindest nicht so, dass wir es wissen dürften.
Und jetzt, Apple?
Apple TV+ steht an einem Scheideweg. Sechs Jahre nach dem Start ist der Dienst zwar kein Netflix-Killer, aber auch kein Rohrkrepierer. Er ist – typisch Apple – ein Hybrid: mal Prestigeprojekt, mal Ökosystem-Baustein, mal Luxus-Experiment mit Imagepolitur.
Drei Szenarien sind denkbar:
1. Weiter wie bisher:
Apple hält an seiner Strategie fest, kauft hochkarätige Filme ein, produziert ausgewählte Serien – und kümmert sich nicht allzu sehr um nackte Zahlen. Das Prestige zählt. Und solange der Gesamtkonzern über 100 Milliarden Dollar Gewinn pro Jahr einfährt, wird niemand an die Wand gestellt, nur weil ein Streamingdienst die eine oder andere Milliarde verbrennt.
2. Mehr Kontrolle, mehr Masse:
Tim Cook hat bereits schärfere Aufsicht verlangt. Denkbar wäre also, dass Apple künftig selektiver produziert, Projekte stärker auf Reichweite trimmt und sich zumindest teilweise dem Mainstream öffnet – ohne den Premium-Anspruch zu verlieren. Ob das dann besser funktioniert als Henry Cavill im Perücken-Bob-Büsten-Look, bleibt offen.
3. Bündel statt Blockbuster:
Die Apple-One-Strategie wird weiter ausgebaut. Apple TV+ bleibt das edle Sahnehäubchen im Abo-Kuchen, aber der Kuchen selbst wird wichtiger: mehr Integration, mehr Cloud, mehr Health, mehr Cross-Selling. Wer einmal drin ist, bleibt drin – und merkt irgendwann gar nicht mehr, wofür genau sie oder er eigentlich bezahlt.
Fazit: Apple TV+ ist nicht das Netflix von Apple. Es ist Apple, das Netflix spielt – nach seinen eigenen Regeln. Die These von 2019 mag gewagt gewesen sein. Heute wirkt sie fast banal: Natürlich war Apple TV+ nie nur als Streamingdienst gedacht.
Vielleicht liegt genau darin seine Stärke.
Vielleicht auch sein Dilemma.
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Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.»