Dem Laufen auf der Spur: Die Schuh-Detektivin ermittelt
Meine Schuhe verraten einiges darüber, wie ich stehe oder durchs Leben gehe. Deine erzählen auch von deiner Gang-Vergangenheit. Zumindest im Kopf der Expertin beginnt sofort ein Indizienprozess, wenn sie achtlos vor der Haustür abgestellte Treter entdeckt.
Gestatten: Mein Name ist Michael, ich bin 41 Jahre alt und stehe im Verdacht, einst ein brutaler Fersenläufer gewesen zu sein. Geäussert hat ihn Pascale Gränicher, die als Leichtathletin und Physiotherapeutin am Zentrum für Sportmedizin der Universitätsklinik Balgrist und einen Blick für Bewegungen und deren Auswirkungen hat. Bei ihr lerne ich Laufen. Nun ja, zumindest versuche ich es. Auf jeden Fall lerne ich, das Laufen mit anderen Augen zu sehen. Präziser. Detaillierter.
Eine ausführliche Ganganalyse hat mir gezeigt, wie das Zusammenspiel funktioniert und welche Kräfte bei jedem Schritt wirken. An Tag eins in der Fussschule habe ich gelernt, Schwachpunkte zu erkennen und mit allem zu arbeiten, was die Füsse hergeben. Und ganz nebenbei habe ich erfahren, dass Pascale eine Art persönliches Schuhradar entwickelt hat. «Ich erkenne oft schon an der Schuhposition wer da ist, wenn ich zu Freunden gehe», sagt sie irgendwann zwischen fachlichen Erläuterungen. Ach ja? Das finde ich interessant.
Offenbar denkt sie nicht: «Die blauen Nikes gehören doch XY», sondern «so wie die Schuhe stehen, müssen sie XY gehören». Was steckt dahinter? Die Beobachtung einer, die sich schon ewig intensiv mit dem Laufen beschäftigt und Menschen hilft, sich dabei zu verbessern.
Wir haben alle unsere Muster
«Wir haben alle ein natürliches Muster beim Laufen und wenn man die Schuhe auszieht, stehen sie oft so da, wie man selbst dastehen würde», lautet ihre Hypothese. Das funktioniert natürlich nur, sofern du beim Ausziehen nicht die Hände benutzt und deine Sneaker sorgsam in die Ecke stellst oder einfach von den Füssen schleuderst.
Ich mache die Probe aufs Exempel und stampfe mich aus den Schuhen, indem ich mit dem linken Schuh auf die rechte Ferse trete und danach den linken Fuss ebenso befreie. Vor mir stehen meine Treter, als hätte mich Obelix mit einem Kinnhaken rausgeboxt. Die Spitzen zeigen wie oben im Titelbild nach aussen. Stimmt – ungefähr so würde ich mich hinstellen. Und mir kommt bei der Übung in den Sinn, dass ich niemals den linken Schuh zuerst ausziehen würde.
«Das ist jetzt nicht wissenschaftlich fundiert, es ist mir einfach aufgefallen», sagt Pascale, die aus abgestellten Schuhen noch mehr herauslesen kann. «Es kommt natürlich noch darauf an, ob es ein Freizeitschuh oder ein Laufschuh ist. Aber wenn es irgendeine Dominanz gibt, sieht man das an der Abnutzung.» Es lohnt sich, ab und zu mal genauer auf die Schuhe zu gucken, wenn sie nicht mehr ganz neu sind. «Wenn du sie abstellst, siehst du schon, in welche Richtung sie kippen», sagt Pascale. In meinem Fall nach aussen, wo die Sohle abgenutzt ist.
Spuren im Stoff
«Du warst zumindest mal ein Fersenläufer und hast auf der Aussenseite aufgesetzt», zieht sie den logischen Schluss. «An der Innenseite abgelaufene Exemplare sind häufiger, das ist bei der Überpronation der Fall. Ausser bei Vorfussläufer:innen, da sieht man an der Ferse natürlich nichts.» Abnutzungserscheinungen wären dann eher im vorderen Bereich der Sohle zu finden. Oder oben, am Stoff der Laufschuhe. «Bei Leuten, die nach innen knicken, weil das Quergewölbe kollabiert, drückt der kleine Zeh nach aussen und der Stoff dehnt sich oft aus», erklärt Pascale. «Und wenn jemand einen Hallux hat, dann sieht man das auch.» Die deformierte Grosszehe ist ein häufiges Problem im komplizierten System Fuss.
Damit der Fuss in Form bleibt, ist speziell bei Laufschuhen eine gute Führung wichtig. Lässt der Halt nach, beobachtet Pascale Indizien für die Materialermüdung. «Ich achte auch darauf, wie die Schuhe gebunden sind», erklärt sie. «Wenn jemand stark nach innen knickt, sind die Schuhbändel oft nach aussen gezogen. Es ist wahrscheinlich ein unbewusster Versuch auszugleichen, dass sich der Stoff nach innen ausweitet und weniger Halt bietet.»
Falls du gar nicht weisst, was deine Beine beim Laufen veranstalten, solltest du einen kritischen Blick in den Spiegel werfen. Und davor in die Knie gehen. Idealerweise schiebt sich deine Kniescheibe dabei geradeaus und leicht nach aussen über den zweiten Zeh. Bei vielen Personen sieht etwas anders aus, häufig kippt das Knie nach innen. Das grobe Bild deiner Beinachsen solltest du kennen und bei Problemen professionellen Rat suchen.
Kollateralschäden beim Schmalspurlaufen
Pascale macht weiter mit ihrem kleinen Schuhspuren-Exkurs, um den ich sie gebeten habe. «Ich sehe auch häufig an der Innenseite neben der Zunge, dass der Stoff dort etwas kaputt ist.» Meine sind dort heil, weil meine Füsse das Gegenteil dessen machen, was diese Abnutzung verursachen kann: «Wer nach innen knickt, schlägt im Laufen die Füsse manchmal zusammen.» Das ist eine mögliche Erklärung. Doch auch geschulte Sprinter:innen zerstören ihre Schuhe an dieser Stelle gerne. «Bei Vorfussläufer:innen mit schmaler Spurbreite passiert das auch», sagt Pascale. «Bei mir sind die Schuhe dort eigentlich immer kaputt.»
Spurbreite ist als Begriff selbsterklärend, deshalb frage ich zunächst nicht weiter nach. Später will ich es doch genauer wissen und finde im Buch «Medical Running» folgende Erklärung: «Die Spurbreite bezeichnet den Abstand der Fussinnenränder. Je nach Breite des Beckens fällt die Spurbreite unterschiedlich aus. Während sie beim Gehen etwa 5 cm beträgt, verringert sich der Abstand beim Rennen deutlich – die Füsse setzen praktisch direkt unter dem Körperschwerpunkt auf. Schnelle Topläufer laufen auf extrem schmaler Spurbreite, im Idealfall laufen sie auf einer Linie.»
Idealfälle und ein Fall für die Tonne
Merke: Selbst Idealfälle können Schäden am Material verursachen. Vom idealen Laufstil bin ich weit entfernt, aber meine alten Schuhe sind bis auf Fersenläufer-Spuren noch ganz gut in Schuss, meint Pascale: «Die sehen noch voll okay aus.» Ich laufe nur noch selten mit ihnen und bin in der Regel auf dünneren Sohlen unterwegs, doch wegschmeissen muss ich sie offenbar noch nicht. Nur regelmässig kontrollieren.
«Wenn du starke Abnutzungen siehst, sollten sie ersetzt werden. Denn die Muster, die du sowieso schon hast, sollten nicht durch den Schuh verstärkt werden.» Wer kann, sollte zumindest kürzere Strecken in Neutralschuhen ohne Pronationsstütze laufen und sein Fussgewölbe trainieren.
Apropos Muster: Schwarze Socken und Schweiss haben einen weiteren Hinweis auf meine Füsse in der Einlegesohle hinterlassen. Dort ist ein Abdruck zu erkennen, der mir ziemlich bekannt vorkommt.
Spannende Indizien, auf die ich künftig stärker achten werde. Ein Muster zeigt sich beim Laufen immer wieder: Kleinigkeiten an einer Stelle können anderswo grosse Auswirkungen haben. Deshalb geht es beim nächsten Mal mit winzigen Bewegungen weiter. Auf der Suche nach Stabilität im Sprunggelenk.
Sportwissenschaftler, Hochleistungspapi und Homeofficer im Dienste Ihrer Majestät der Schildkröte.