«Eine schöne Laufbewegung ist nicht unbedingt ökonomisch»
Hintergrund

«Eine schöne Laufbewegung ist nicht unbedingt ökonomisch»

Im Laufsport zählt nicht nur die maximale Sauerstoffaufnahme. Fast ebenso wichtig ist es, wie ökonomisch der Körper arbeitet. Sportwissenschaftler Dr. Oliver Quittmann über optische Überraschungen, physiologische Unterschiede und den Einfluss der (Lauf-)Technik.

Die Frage nach dem Energieverbrauch ist brandaktuell. Nicht nur, wenn es ums Heizen geht. Sie stellt sich auch im Laufsport bei jedem Schritt. «Ich bin zum Beispiel sehr unökonomisch», sagt der Sportwissenschaftler Dr. Oliver Quittmann über sich selbst. Das bedeutet, er braucht auf jedem gelaufenen Kilometer relativ viele Milliliter Sauerstoff pro Kilogramm Körpergewicht. Als Wissenschaftler forscht Oliver im Bereich Leistungsdiagnostik, als Triathlet will er sein sportliches Potenzial ausschöpfen. Während wir über die Energiebereitstellungswege des Körpers und die Bedeutung der maximalen Sauerstoffaufnahme reden, kommt ein Thema immer wieder zur Sprache: die Laufökonomie. Also die Frage, wie effizient der Körper arbeitet. «Im Bereich Laufökonomie gibt es sehr grosse Unterschiede, Faktoren wie Sehneneigenschaften sind nochmal wesentlich wichtiger als im Radsport», sagt Oliver, der seine ökonomischen Defizite über eine hohe maximale Sauerstoffaufnahme ausgleichen muss.

Dr. Oliver Quittmann forscht und lehrt an der Deutschen Sporthochschule Köln.
Dr. Oliver Quittmann forscht und lehrt an der Deutschen Sporthochschule Köln.
Quelle: Marilena Werth

Doch welche Aspekte spielen da noch mit rein und wie lässt sich die Laufökonomie verbessern? Meine Defizite sind noch deutlich grösser, ich muss mir zunächst mal den Begriff genauer erklären lassen.

Was muss ich mir unter Laufökonomie vorstellen?
Dr. Oliver Quittmann: Der Begriff Ökonomie ist auch von der wissenschaftlichen Disziplin abhängig. Wenn ich das Thema biomechanisch betrachte, dann schaue ich mir vielleicht an, welche Muskelaktivierung ich bei einem gegebenen Gelenkwinkel habe. Oder ich interessiere mich für bestimmte Massen-Trägheitsmomente, die ich dann aufwendig modellieren kann. In der Physiologie schaue ich lediglich: Welche Strecke lege ich zurück? Wie ist die Geschwindigkeit und wieviel Sauerstoff wird aufgenommen? Woran das liegt und wie die Bewegung aussieht, ist aus physiologischer Perspektive nicht so entscheidend.

Auch wenn es aus deiner physiologischen Sicht nicht so entscheidend ist: Fällt denn auf den ersten Blick auf, wie ökonomisch jemand läuft?
Von den Analysen, die wir gemacht haben, muss ich wirklich sagen, dass eine schöne Laufbewegung nicht unbedingt mit einer ökonomischen Bewegung in Zusammenhang zu bringen ist. Ich hatte schon Leute auf dem Laufband, bei denen ich dachte: um Gottes Willen, hoffentlich stolpern die nicht! Das sah super unökonomisch aus, aber die hatten dann top Ökonomiewerte in der Physiologie. Andersrum passiert das genauso. Da gibt es Leute mit sehr raumgreifenden Schritten und aufrechter Körperhaltung, die ganz viel verbrauchen. Das hängt von so vielen Variablen ab.

Was spielt da beispielsweise mit rein?
Ein offensichtlicher Punkt ist der Körperbau. Ich habe zum Beispiel im Verhältnis zu meinen Oberschenkeln verhältnismässig ausgeprägte Waden. Das ist natürlich viel Masse und damit ein relativ hohes Trägheitsmoment. Bei Leuten mit langen Sehnen und schmalen Waden sind die Voraussetzungen anders. Genauso könnten wir das für die Körpergrösse, Beinlänge oder Sehneneigenschaften betrachten. Wenn man grob auf den Körper guckt, bekommt man schon einen ersten Eindruck. Aber da könnte man sich noch viele Komponenten anschauen.

Beim Thema Laufökonomie stösst man schnell auf Paula Radcliffe, die langjährige Marathon-Weltrekordlerin. Ihre maximale Sauerstoffaufnahme hat sich über die Jahre nicht mehr gross verbessert, aber die Bestzeiten extrem.
Das wurde von Andrew Jones von der Exeter University zusammengefasst und ist super spannend. Auch wenn wir sagen, dass die Sauerstoffaufnahme generell ein entscheidender Faktor ist, war der Punkt bei ihr auf diesem hohen Niveau gar nicht mehr so relevant. Ihre Leistungsfähigkeit hat sich zum einen dadurch verändert, dass sich ihre Laktatleistungskurve immer weiter nach rechts verschoben hat. Und noch stärker dadurch, dass sich ihre Laufökonomie verbessert hat.

Paula Radcliffe beim London-Marathon 2015.
Paula Radcliffe beim London-Marathon 2015.
Quelle: Shutterstock

Die Frage aller Fragen lautet natürlich: Wie hat sie das gemacht?
Studien deuten darauf hin, dass es auf diesem Elite-Niveau nicht mehr so stark darum geht, eine noch höhere VO₂max zu kriegen, sondern eher bei der Renngeschwindigkeit zu ökonomisieren. Das hat bei ihr über grosse Trainingsumfänge sehr gut funktioniert. Sie hatte immer auch Intervall-Einheiten mit dabei, aber die Umfänge ebenfalls angezogen. Da geht man davon aus, dass das die Ökonomie verbessert.

Die Unterschiede bei ihr waren gross und als Weltklasse-Athletin stand sie im Fokus. Gab es bei ihr eine sichtbare Veränderung, was den Laufstil angeht?
Ich würde vermuten, dass es trotz der gemessenen Unterschiede, die wie Tag und Nacht sind, kaum auffällt. Vielleicht sieht man kleine Veränderungen an einzelnen lauftechnischen Bewegungen. Aber meiner Erfahrung nach kann es auch sein, dass man das überhaupt nicht wahrnimmt. Dass es weniger eine mechanische, sondern eher eine physiologische Komponente ist und mit der Frage zu tun hat, wie der Körper mit dem Sauerstoff umgeht.

Demnach spielt die Lauftechnik eine eher untergeordnete Rolle?
Ich würde nicht den Schluss daraus ziehen, dass wir uns über Lauftechnik keine Gedanken mehr machen müssen. Gerade bei Leuten, die sich bislang keine Gedanken darüber gemacht haben, kann man durch ein Lauf-ABC oder Krafttraining, das auch sehr stark mit der Laufökonomie in Verbindung gebracht wird, immer noch was rausholen. Bestimmte Sachen lassen sich auch mechanisch ganz gut begründen. Zum Beispiel, dass man den Ellenbogen relativ konstant hält oder den Schritt eher nach hinten hin lang macht. Wenn ich den Fuss zu weit vorne aufsetze, dann bremse ich mich ja. Die Bodenreaktionskraft drückt gegen mich. Der Fussaufsatz sollte nah am Körper, beziehungsweise unter dem Körperschwerpunkt sein. Bestimmte Prinzipien gelten natürlich, aber ich kann nicht 1:1 einen schönen Stil in die Physiologie übersetzen.

  • Ratgeber

    Dem Laufen auf der Spur: Tag eins in der Fussschule

    von Michael Restin

Wie kann Krafttraining dazu beitragen, dass die Bewegungsabläufe ökonomischer werden?
Ein stabiler Rumpf ist zum Beispiel in jeder Sportart gut, weil es darum geht, Kräfte zu übertragen. Ich will ja meinen Körper bewegen. Ich muss von den Beinen über den Rumpf die Kraft übertragen und mit den Armen quasi ein Gegengewicht bilden. Wenn der Rumpf nicht stabil ist, kann ich nicht so eine hohe Kraft erzeugen. Egal ob ich im Sprint oder im Ausdauerbereich ökonomisch sein will: Man sollte einen möglichst stabilen Rumpf haben, den man nicht zu stark rotiert. Wenn ich zehn Leute laufen sehe, sehe ich zehn unterschiedliche Stile. Manche rotieren viel im Oberkörper, da könnte man durch Stabilitätstraining Fortschritte machen. Andere strecken die ganze Zeit den Arm. Manche haben auch die Arme relativ steif, da passiert in den Schultern kaum etwas, sondern eher aus dem Ellenbogen. Da gibt es verschiedene Aspekte, die wir als eher unökonomisch bewerten würden.

Zu den körperlichen Voraussetzungen kommt noch das Material. Definitiv ökonomischer wird das Laufen durch Schuhe mit reaktiven Carbonplatten.
Deren Nutzen ist relativ gut belegt, die Datenlage ist sehr klar. Deshalb haben wir bei unseren Studien gesagt, wenn wir die Laufökonomie beurteilen wollen, lassen wir Schuhe mit Carbonplatten nicht zu. Wenn wir das gemacht hätten, hätten wir direkt ein Bias gehabt. Die Carbon-Schuhe, speziell von Nike, sind ein sehr wissenschaftlich begleitetes Produkt. Wenn man Science und Praxis an einem Beispiel festmachen will, komme ich immer auf Kipchoges Rekordlauf von 2019. Da passt alles zusammen. Die Leistungsdiagnostik, das Schuhmaterial, die Meteorologie, die Ernährungswissenschaft, die Luftwiderstandskomponenten. Das ist so ein wissenschaftlich fundiertes Projekt gewesen. Wirklich beeindruckend.

Die Entwicklungen bei den Schuhen haben das Regelwerk verändert und sind längst im Breitensport angekommen.
Ich sehe auch im Freundes- und Bekanntenkreis, dass diese Modelle immer getragen werden. Wenn es Leute sind, die die 10 Kilometer dann statt in 29:30 in 29 Minuten laufen, dann sage ich: okay, das bringt was. Wenn sie bei 10 Kilometern irgendwann nach einer Stunde da sind, weiss ich nicht, ob es solche Schuhe unbedingt braucht. Das Material sollte auch zur Leistungsfähigkeit passen.

Bei der Ausrüstung waren diese Schuhe ein Gamechanger. Welche Entwicklung könnte denn die Leistungsdiagnostik entscheidend voranbringen?
Es gibt schon Sensoren auf der Haut, die den Blutzuckerspiegel messen und dadurch helfen, die Ernährungsstrategie während des Wettkampfs zu wählen. Wenn es so etwas für Laktat gäbe und auf der Uhr sichtbar wäre, wie meine Laktatkonzentration ist, würde das den Ausdauersport wahrscheinlich sehr verändern. Es gab Arbeitsgruppen, die sich das angeguckt haben, aber es scheint nicht so einfach wie bei der Glucose zu sein. So weit sind wir noch nicht.

Zur Person

Dr. Oliver Quittmann forscht und lehrt an der Deutschen Sporthochschule Köln unter anderem im Bereich des Ausdauersports. In seinen Studien befasst er sich mit verschiedenen Methoden der Leistungsdiagnostik, wobei er vor allem den glykolytischen Stoffwechsel untersucht. Über seine Arbeit hinaus betreibt der 31-Jährige den Video-Podcast «Exercise Inside Out» und vermittelt seine Forschungsergebnisse im Rahmen von Science Slams. Viele seine Lehr- und Forschungsinhalte veröffentlicht er regelmässig auf seinem YouTube-Kanal.

Titelbild: Shutterstock

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Sportwissenschaftler, Hochleistungspapi und Homeofficer im Dienste Ihrer Majestät der Schildkröte.


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