Filmkritik: «Shang-Chi» bringt frischen Wind zu Marvel
Das habe ich nicht kommen sehen: «Shang-Chi and the Legend of the Ten Rings» fühlt sich frisch und unverbraucht an. Weitestgehend. Kein einfaches Unterfangen im mittlerweile 25. Film des Marvel Cinematic Universe.
Eines vorweg: In dem Review gibt’s keine Spoiler. Du liest nur Infos, die aus den bereits veröffentlichten Trailern bekannt sind.
Als Marvel anno 2019 ankündigt, sein asiatisch angehauchtes 1970er-Comic «Shang-Chi and the Legend of the Ten Rings» verfilmen zu wollen, herrscht im Land des roten Drachens nicht nur Freude. Zum einen wegen des Vorwurfs, dass Marvel ganz offensichtlich aufs chinesische Filmpublikum schiele. Denn China ist für die Hollywood-Studios ein wichtiger Markt. Bald sogar wichtiger als der heimische US-Kinomarkt.
Ein Markt, der mit einem chinesischen Superhelden bespielt werden will.
Zum anderen wird Marvel die Wahl seiner zwei Hauptdarsteller vorgeworfen. Mit Tony Leung soll schliesslich ein chinesischer Schauspieler den Bösewicht geben. Den Guten hingegen darf der Kanadier Simu Liu geben. «Diskriminierung» sei das, so wird geschrieben. Dass der Kanadier Liu chinesischer Herkunft ist, interessiert niemand.
Heute, zwei Jahre später, ist «Shang-Chi» Realität. Läuft im Kino. Trotz Pandemie. Auch das ist nicht gut, finden einige Kritikerinnen und Kritiker. Egal, finde ich. Denn nach der mittelgrossen «Blackwidow»-Enttäuschung ist «Shang-Li» ein grossartiger Volltreffer.
Darum geht es bei «Shang-Chi»
Shaun (Simu Liu) ist nicht der, der er vorgibt, zu sein. Davon ahnt seine Freundin und Mitarbeiterin Katy (Awkwafina) nichts. Wie sollte sie auch? Seit zehn Jahren kennt sie Shaun. Nie hat er etwas auf die Reihe bekommen. Oder sich gewehrt. Aus ihrem Leben haben beide nichts gemacht. Ihr Alltag ist eintönig: Sie parkieren Autos für stinkreiche Hotelbesucher, am Abend betrinken sie sich in Karaoke-Bars.
Das hat ein Ende, als eines Tages eine mysteriöse Truppe hochtrainierter Kämpfer Shaun und Katy überfallen wollen. Denn Shaun teilt plötzlich aus. Soll angeblich Shang-Chi heissen. Und einen Vater (Tony Leung) haben, der äusserst mächtig ist.
Schnell wird klar: Shauns Vater ist nicht irgendwer. Shauns Vater ist der Anführer der Ten Rings. Eine verborgene Organisation, die angeblich seit 1000 Jahren nach Macht und Reichtum giert. Shaun – oder besser: Shang-Chi – ist sein halbes Leben vor den Ten Rings davongelaufen. Grund: unbekannt.
Bis jetzt.
Ein Hauch von Frische im Marvel Cinematic Universe
Die Aufgabe, der sich der japanisch-amerikanische Regisseur Destin Daniel Cretton gestellt hat, ist keine einfache. Mal abgesehen von der Diskussion über den Kinostart in der Pandemie sowie jenen Vorwürfen wegen Rassismus und Diskriminierung. Insbesondere, weil China und Kunstfreiheit auch ein zumindest schwieriges Verhältnis haben. Unabhängig davon ist «Shang-Chi» noch etwas ganz anderes:
der 25. Film des Marvel Cinematic Universe (MCU).
Für Regisseur Cretton heisst das: Zeig etwas Neues. Etwas, das in den vorherigen MCU-Filmen nicht schon zigfach zu sehen war. Aber weiche trotzdem nicht allzu weit von der Formel ab: «Superheld plus Action plus Kino, fakturiert mit Spass und potenziert mit Humor. Oder so ähnlich.» Same Same, but different, but still same.
Tatsächlich schafft Cretton genau das mit Bravour, woran «Blackwidow» noch scheiterte: Er bringt ein Hauch von Frische ins MCU.
Angefangen mit der Action. Den Kämpfen. Oder besser: der Kampfkunst. Martial Arts genannt. Sowas hast du noch nie gesehen. Nicht in einem Marvel-Film. Nicht mal in einer Marvel-Serie: Netflix’ «Daredevil» kommt zwar recht nah ran. Die dreiminütige, am Stück gedrehte Hallway Fight-Szene gehört immer noch zum Besten, was Fernsehunterhaltung je hervorgebracht hat.
Aber die Kämpfe in Shang-Chi sind schnell, trickreich und kreativ und chaotisch zugleich. Durchtränkt vom Vibe der frühen Jackie-Chan-Filme, wo der Hongkong-chinesische Schauspieler mit Highspeed alles Mögliche in seiner Umgebung nutzt, um sich gegen Horden von Gegnern zu wehren. Selbst wenn’s die eigene Jacke ist. Sowas von Jackie-Chan-typisch. Shang-Chi macht das auch. Ständig.
Ich kann nicht anders: Sehe ich so etwas, muss ich mir die Freudentränen aus den Augen wischen. Es ist genau die Art von Martial Arts, die ich mir nach Erscheinen der ersten Trailer erhofft habe und die ich im gesamten ersten Akt des Films bekomme.
Mehr noch: Regisseur Cretton hat nämlich nicht nur von Jackie Chan abgeguckt, sondern auch von traditionellen chinesischen Martial-Arts-Filmen. Etwa «Crouching Tiger, Hidden Dragon» oder «Hero». Kein Wunder: Hätte ich «Crouching Tiger, Hidden Dragon»-Schauspielerin Michelle Yeoh im «Shang-Chi»-Cast, würde ich das auch tun.
Denn wo Shang-Chi der junge, wilde Kämpfer à la Jackie Chan ist, ist in den Rückblenden meist sein Vater zu sehen. Furchteinflössend, brutal, aber gleichzeitig grazil und elegant. Seine Geschichte erstreckt sich über 1000 Jahre. In seinen Kämpfen schwebt die Kamera oftmals durch wunderschön opulente, asiatische Sets der Feudalzeit. Darin Akteure, die an total offensichtlich wegretuschierten Kabeln – ich liebe das – durch die Szenen fliegen, Wände entlanglaufen und im Zweikampf eine Art poetischen Tanz mit ihrem Gegenüber ausführen.
Noch mehr mag ich, wie Cretton in all seiner Action nie den Überblick verliert. Selbst auf engstem Raum nicht. Das ist Kameraführung vom Feinsten. Ganz klar: In 25 Marvel-Filmen sind Nahkämpfe nie besser und packender in Szene gesetzt worden als in «Shang-Chi».
Aber dann: Rückfall in alte Muster
Nach dem ersten, beinahe perfekten Akt war ich mir sicher: «Shang-Chi» ist jetzt schon super, egal, was da noch kommt. Ganz so euphorisch habe ich den Kinosaal dann trotzdem nicht verlassen.
Schuld daran ist nicht der zweite, deutlich langsamere Akt. Den braucht es. Gerade nach all dem Tempo im ersten Akt. Die Geschichte kommt zum Atmen. Ich auch. Dazu etwas Charakter-Exploration. Shang-Chis Vater, gespielt von Tony Leung, bekommt unerwartet viel Tiefe. Warum, spoilere ich nicht. Soviel sei aber gesagt: Endlich wieder ein richtig guter, nahbarer Marvel-Bösewicht, der nicht nur dafür da ist, damit die Guten Gutes tun können.
Schuld an meiner leicht gebremsten Euphorie ist der dritte Akt. Es wirkt so, als ob «Shang-Chi», der Film, sich plötzlich daran erinnert, ein Marvel-Film zu sein: Beinahe aus dem Nichts kommt’s zum mittlerweile total voraussehbaren CGI-Gewitter-Kampf extraordinaire.
Ehrlich, Marvel, das braucht’s nicht. Nicht immer. In «Avengers: Endgame» mag das passen. Das fulminante Ende einer Ära. Verstehe ich.
Aber bereits im als Spionage-Thriller vermarkteten «Blackwidow» holte das Studio zum völlig unnötigen CGI-Bombast-Rundumschlag aus. Und «Shang-Chi» übertrifft es gar. Das will so gar nicht zum «kleinen» Film passen, der mir zuvor präsentiert worden ist. Vor allem, wenn die Figuren plötzlich à la «Dragonball» herumfliegen und mit Kamehamehas um sich schmeissen.
Schade. Weniger wäre mehr gewesen.
Dafür: Endlich hat Marvel Humor kapiert
Trotz CGI-Gewitter: Die Martial Arts geht auch dort nicht komplett verloren. Gott sei Dank. Vor allem Tony Leung darf sich so richtig austoben. Wie gesagt: Es ist seine Perspektive auf die Dinge, die mindestens genauso spannend ist wie Thanos’ Perspektive in «Avengers: Infinity War».
Ihm gegenüber steht der eigentliche Hauptdarsteller: Simu Liu. Charismatisch und gleichzeitig sympathisch. Ich mag ihn. Noch mehr mag ich aber seinen humoristischen Sidekick Katy. Gespielt wird Katy von Awkwafina. Und die ist richtig lustig. Nicht auf die Marvel-typische Weise, wo Humor meist dazu dient, die ernsten und emotionalen Momente zu durchbrechen. Übrigens ein regelrechtes Unding. Als ob jemand bei Marvel dem jüngeren Publikum sowas wie, nunja, Gefühle nicht zutrauen würde.
Nein, Awkwafina hat Timing und ist dann lustig, wenn’s zur Geschichte passt. Und wenn’s gerade emotional ist, hält sie die Klappe. Danke!
Einzig Shang-Chis Schwester Xia Ling, gespielt von Meng'er Zhang, fällt im Cast deutlich ab. Irgendwann im Film drückt ihr ein Charakter gar ein Messer in die Hand und sagt sowas wie «Es wird Zeit für dich, aus dem Schatten zu treten». Fast, als ob dem Charakter bewusst wäre, welch untergeordnete Rolle Xia Ling bis zu dem Zeitpunkt gespielt hat.
Natürlich dürfen ein paar Cameos von bekannten Figuren aus den vorherigen Marvel-Filmen nicht fehlen. Mein Tipp: Spoilere dich selbst nicht. Lass dich überraschen. Ist viel witziger, wenn besagte Charaktere auf einmal da sind.
Fazit: «Shang-Chi» hat kleine Schwächen – aber wirklich nur kleine
Trotz viel zu opulent geratenem drittem Akt: «Shang-Chi and the Legend of the Ten Rings» macht unheimlich viel Spass und bringt dank Martial Arts einen herrlich frischen Wind ins Marvel-Universum.
Zu viel Spass machen die Kämpfe. Zu schön sind die Choreografien. Die Kameraeinstellungen. Die dazu passende, dezente Musik mit asiatischem Flair. Ein wahres Fest für Marvel-Fans – und definitiv keine Enttäuschung.
Zu sehen ist «Shang-Chi and the Legend of the Ten Rings» ab dem 2. September im Kino. Laufzeit: 132 Minuten.
Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.»