Hintergrund

Haben Twitch und Co. ein Sexismus-Problem?

Eine Frau, die während eines Livestreams ihren Sohn stillt, sorgt für einen riesigen Aufschrei und die Sperrung ihres Videos. Es ist nur das jüngste Beispiel, das den Verdacht erweckt, dass Twitch und Co. ein Frauen-Problem haben.

Livestreams von Games werden von Jahr zu Jahr beliebter. Twitch alleine wurde im zweiten Quartal über 2.72 Milliarden Stunden geschaut. Klar, will jeder was vom Kuchen abhaben – auch Frauen. Diesen weht in der immer noch männerdominierten Game-Szene aber seit jeher ein steifer Wind entgegen. Das jüngste Beispiel betrifft Heather Kent. Neben ihren Twitch- und Youtube-Videos arbeitet sie als Model. Während einer Unterhaltung mit einer Freundin auf ihrem Kanal HeatherEffect entschied sie sich, ihre Tochter zu stillen. Der Aufschrei liess nicht lange auf sich warten. Zahlreiche User warfen Heather vor, ihr Kind dafür zu missbrauchen, ihre Brüste zu zeigen. Wenig später nahm Twitch den Clip offline.

Stillen in der Öffentlichkeit sorgt immer noch für Diskussionen.
Stillen in der Öffentlichkeit sorgt immer noch für Diskussionen.
Quelle: Twitch/Heathereffect

Heather postete den Clip anschliessend auf Twitter mit dem Kommentar, dass «wir ganz offensichtlich noch einen weiten Weg vor uns haben, im Kampf, Stillen zu normalisieren». Sie sei keine besonders politisch motivierte Person, gab sie gegenüber dem Game-Blog Kotaku bekannt, aber durch die immens negativen Rückmeldungen wollte sie nicht schweigen.

Stillen ist mit Essen gleichzusetzen

Dabei streame sie meist erst, wenn ihre Tochter im Bett sei. Da aber Streamen für sie eine wichtige Einnahmequelle sei und Twitch keinen Mutterschaftsurlaub bezahlt, könne sie sich zu lange Absenzen nicht leisten. Und jeder, der selber ein Baby hat, weiss, dass sich der Tag nach dem Baby richtet und nicht umgekehrt. Der Vorwurf mit einem Busenblitzer schnelle Klicks zu machen, wurde von vielen insbesondere weiblichen Gamerinnen abgeschmettert. Stillen sei kein sexueller Akt, sondern schlichte Nahrungsaufnahme und die dauert nun mal nicht wenige Minuten, sondern kann schnell gegen eine Stunde verschlingen.

Das einzige, das mit Stillen in einem Stream vergleichbar ist, wäre Essen während dem Streamen. Nicht pinkeln, nicht Sex, nicht Windeln wechseln
Erin, Twitch-Streamerin

Mittlerweile hat sich Twitch bei Heather entschuldigt und klar gestellt, dass Stillen nicht gegen die Richtlinien verstösst. Die Diskussion hat sich damit aber längst nicht erledigt. Es zeigt, dass die Plattforminhaber und viele ihrer User mit der Zunahme des weiblichen Geschlechts sichtlich Mühe haben.

Das Problem mit den Cam Girls

Frauen machen rund 35 Prozent der Twitch-Streamer aus. Die Top 10 Kanäle liegen jedoch komplett in Männerhand. Das gleich Bild gibt es bei den Usern, die zu über 80 Prozent männlich sind. Die erfolgreichste Frau ist Pokimane auf Platz 12. Trotz oder vielleicht gerade wegen der klaren Männerdominanz erhitzen weibliche Streamer immer wieder die Gemüter. Insbesondere die sogenannten Cam Girls, abwertender auch thots genannt. Streamerinnen, deren Unterhaltungswert stark von ihrer freizügigen Bekleidung abhängt. Zwar hat Twitch schon vor Jahren die Vorschriften verschärft. Für geifernde Zuschauer gibt es immer noch genug tiefe Dekolletees anzustarren.

Die 20-jährige Ari aus Mexiko gewährt tiefe Einblicke
Die 20-jährige Ari aus Mexiko gewährt tiefe Einblicke
Quelle: Twitch/Arigameplays

Wo liegt das Problem? Wem es nicht gefällt, der soll halt nicht zuschauen. Und schliesslich steht es jedem frei, wie er oder sie sich präsentieren möchte. Genauso wie es jedem frei steht, so etwas zu geniessen. Kritiker argumentieren, dass es den Damen nur darum gehe, notgeilen jungen Männern das Geld aus der Tasche zu ziehen. Oft würden sie nicht mal selber spielen, sondern eine Aufzeichnung laufen lassen. Wieder andere argumentieren, es würde dem Image «echter» Streamerinnen schaden. Was den Frauen wohl eher schadet, sind Selbstjustizler wie die Boob Police, die Frauen trollen und ihnen Verletzung der Community-Richtlinien vorwerfen.

Dass gewisse Männer den Frauen vorschreiben wollen, wie sie sich anzuziehen haben, kommt bei den Streamerinnen erwartungsgemäss schlecht an. Denn auch das andere Extrem scheint nicht in Ordnung wie Pokimane am eigenen Leib erfahren musste. Die «Fortnite»-Spielerin streamte einen Tag lang ohne Make-Up und viele ihrer Zuschauer rasteten komplett aus. Immerhin erhielt Pokimane für die Aktion auch viel Support von Fans und anderen Streamerinnen, die es ihr gleich taten.

Belle macht keinen Hehl daraus, was der Reiz ihres Profils ist.
Belle macht keinen Hehl daraus, was der Reiz ihres Profils ist.
Quelle: Twitter/Belle Delphine

Dass auf der anderen Seite Social-Media-Stars wie Belle Delphine mit eindeutigen Inhalten voll und ganz das Klischee bedienen, das seriösere Content Creator bekämpfen, hilft der Gleichstellungsdebatte nicht. Kürzlich konnte die 19-Jährige gar ihr gebrauchtes Badewasser verkaufen. Allerdings verhehlt sie ihre monetären Absichten auch nicht.

Frauen müssen gefallen

Um beim Publikum auf Twitch und Co. nicht in Ungnade zu fallen, müssen Frauen offenbar in ein enges Schema passen. Die Vorschriften von den Plattform-Eigentümern fallen dann auch meist zum Nachteil weiblichen Content Creater aus. Was auch die Richtlinien von Microsofts Mixer wieder bestätigen. Wie viel Haut man zeigt, entscheidet darüber, in welche der drei Kategorien: Familienfreundlich, Teen, oder 18+ ein Stream eingestuft wird. Für die begehrte Familienfreundliche Freigabe darf praktisch keine Haut zu sehen sein. Die Kleidung muss bis zum Hals gehen und trägerlose Shirts sind ebenfalls tabu. Wer freie Schultern zeigt, landet im 18+-Topf. Ob das auch für Männer gilt, die oben ohne Workout-Streams produzieren wie TominationTime drüben auf Twitch, ist wohl nicht zu erwarten. Die strickten Kleidervorschriften sind zum Teil sicher auf ein prüdes Amerika zurückzuführen, könnten aber auch Microsofts Antwort auf Cam Girls sein.

Mixers Dress Code sorgt für rote Köpfe.
Mixers Dress Code sorgt für rote Köpfe.
Quelle: Twitter/EmStreams

Der Dresscode ist nicht das einzige Minenfeld für Streamerinnen. Das Techportal The Verge hat in einem ausführlichen Artikel darüber berichtet, wie selbst der Beziehungsstatus zu einem heissen Eisen werden kann. Wie bei Promis im Film- oder Musikbereich gibt es auch in der Game-Branche Fans, die besessen sind von ihren Idolen. Das führe laut The Verge dazu, dass Nettigkeiten von Frauen gegenüber den Zuschauern schnell als romantische Geste wahrgenommen werden. Darin wiederum sehen manche mutwillige Manipulation, um Spenden abzusahnen.

Die gleiche Reaktion entstehe, wenn sich eine Streamerin nicht als Single herausstellt, wie Jessica Richey berichtet. Als plötzlich ihr Mann in einem Stream auftauchte und ihr die Schultern massierte, wurde ihr vorgeworfen, die Zuschauer an der Nase herumzuführen. Als ob Jessica etwas für die Wunschträume ihrer Zuschauer kann. Auch andere Streamerinnen bestätigen im Artikel auf The Verge, dass ihr Beziehungsstatus einen starken Einfluss auf die Art und Weise habe, wie Zuschauer mit ihnen interagieren oder ob sie überhaupt zuschauen.

Ninja hat seit kurzem zu Mixer gewechselt.
Ninja hat seit kurzem zu Mixer gewechselt.
Quelle: Twitter/Ninja

Während männliche Streamer in der Regel über ihren Inhalt definiert werden, werden Frauen häufiger zum Objekt degradiert. Dass der ehemals populärste Twitch-Streamer Typer Blevins, besser bekannt als Ninja, im August letzten Jahres erklärte, nicht mehr mit Frauen streamen zu wollen, ist der Situation auch nicht zuträglich. Seine Begründung lautet, dass dabei zu schnell Gerüchte entstehen können. «Eine Andeutung von Flirten reicht und die Szene wird rausgenommen und für immer für Clickbait-Videos missbraucht», so Blevins gegenüber Polygon. Wenn die einzige Lösung für dieses Problem sein soll, nicht mit Frauen zu streamen, dann steht es wirklich schlimm um das Publikum.

Überreaktion oder tief verwurzeltes Problem?

Wie siehst du die ganze Problematik? Ist alles gar nicht so schlimm? Sind all die Vorfälle bloss Ausnahmen? Fürchten männliche Gamer, dass ihnen durch die Zunahme an weiblichen Gamern ihr Hobby weggenommen wird? Oder dass es sich zu sehr verändert? Sind sie neidisch, weil Frauen «einfacher» an Klicks kommen? Warum nicht leben und leben lassen? Oder sind die Kritiker völlig altruistisch motiviert und wollen nur Gerechtigkeit? Ich bin gespannt, auf deine Meinung.

84 Personen gefällt dieser Artikel


User Avatar
User Avatar

Als Kind durfte ich keine Konsolen haben. Erst mit dem 486er-Familien-PC eröffnete sich mir die magische Welt der Games. Entsprechend stark überkompensiere ich heute. Nur der Mangel an Zeit und Geld hält mich davon ab, jedes Spiel auszuprobieren, das es gibt und mein Regal mit seltenen Retro-Konsolen zu schmücken. 

Diese Beiträge könnten dich auch interessieren

  • Hintergrund

    «Die Sims» feiert 25 Jahre – ein Rückblick

    von Michelle Brändle

  • Hintergrund

    «Hogwarts Legacy»: Spielen oder boykottieren?

    von Philipp Rüegg

  • Hintergrund

    The Queen's Gambit: Was sind die grünen Pillen in der Netflix-Serie?

    von Dominik Bärlocher

176 Kommentare

Avatar
later