Kritik

«Oppenheimer»: Ode an den Tod, Zerstörer von Welten

Luca Fontana
19.7.2023

Nicht der Bombast ist es, der Christopher Nolans «Oppenheimer» trägt. Sondern Intimität. Das meisterhafte Zusammenspiel von kleinen Bildern in grossen Geschichten – und umgekehrt. Ein Meisterwerk des opulenten Kammerspiels.

Eines vorweg: In diesem Review gibt’s keine Spoiler. Du liest nur Infos, die aus den bereits veröffentlichten Trailern bekannt sind.


Es wäre kein Nolan-Film, sässe das Publikum am Ende nicht erschlagen in den Kinosesseln. Überwältigt. Aufgewühlt. Allein schon der Gedanke, sich wieder zu regen, mutet wie ein morbider Witz an. Geschweige denn, klare Gedanken zu fassen, ehe man das Gesehene auch nur annähernd verarbeiten konnte.

So ein Filmemacher ist Christopher Nolan. Und so ein Film ist ihm erneut gelungen. Vielleicht sogar sein bisher bester.

Darum geht’s in «Oppenheimer»

Die Welt steht vor einem Krieg, der Millionen Menschen das Leben kosten wird. Wer ihn als Sieger beenden wird? Unmöglich vorherzusehen. Ausser für Physikerinnen und Physiker. Denn die in Europa gelehrte «neue» Physik, die Quantenmechanik, macht bahnbrechende Fortschritte. Besonders, als 1938 die erste Atom-Kernspaltung gelingt – pure Science-Fiction. Zumindest fürs gemeine Volk. Gelehrten wird allerdings schnell klar, was das wirklich bedeutet: Die Welt steht kurz davor, die Macht der Sonne in eine kleine Kugel zu packen und auf die andere Seite des Ozeans zu schiessen. In Form einer Bombe.

Einer Atombombe.

Als J. Robert Oppenheimer (Cillian Murphy), einer der klügsten Köpfe der Welt, die Leitung des Manhattan-Projekts übernimmt, um die Atombombe zu bauen, ist ihm noch nicht bewusst, welchen ethischen Dämonen er sich stellen muss. Besonders als das von den Nazis regierte Deutschland den Krieg schneller verliert als erhofft und ein neuer, eigentlich auch schon fast geschlagener Feind her muss: Japan. Lässt sich da der Bau der Atombombe überhaupt noch rechtfertigen? Oder steuert die Menschheit auf eine unumkehrbare Kettenreaktion zu, die ihre eigene Vernichtung zur Folge haben wird?

Oppenheimer, der den Menschen das Feuer brachte

Für einmal liefert Nolan keinen jegliche Vorstellungskraft sprengenden Actionkracher oder Science-Fiction-Film ab. Vielmehr ist «Oppenheimer» ein langsam erzähltes Biopic ohne viel Brimborium. Aber Nolan versteht es meisterhaft, in diesem stetigen Fluss von ruhigen Bildern eine derart quälende Spannung aufzubauen, dass wir Zuschauende schon bald nach Erlösung lechzen. Denn die Geschichte des Baus der ersten Atombombe der Welt ist nicht nur die Frage danach, ob die Menschheit überhaupt fähig ist, ihre zerstörerischen Kräfte zu kontrollieren. Sondern, ob sie selbst von ihnen zerstört wird.

Regisseur Christopher Nolan, sein Kameramann Hoyte Van Hoytema und sein Hauptdarsteller Cillian Murphy beim Dreh von «Oppenheimer».
Regisseur Christopher Nolan, sein Kameramann Hoyte Van Hoytema und sein Hauptdarsteller Cillian Murphy beim Dreh von «Oppenheimer».
Quelle: Universal Studios

Natürlich, wer ein Hauch von Weltgeschichte kennt, weiss, worauf Oppenheimers Manhattan-Projekt zusteuert. Entsprechend genial ist Nolans erzählerischer Kniff, gleich zu Beginn Parallelen zwischen der Geschichte des Vaters der Atombombe und jener von Prometheus zu ziehen: Dem Titan, der den griechischen Göttern das Feuer stahl, um es den Menschen zu schenken. Als Strafe wurde Prometheus an einen Berg gekettet, wo er bis in alle Ewigkeit unendliche Qualen erleiden sollte.

Oppenheimer erging es ähnlich. Tatsächlich basiert Nolans Drehbuch auf der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Biografie «American Prometheus», geschrieben von den Autoren Kai Bird und Martin J. Sherwin. Und genau wie das Feuer Prometheus’ den Menschen Wärme und Fortschritt brachte, beendete die Atombombe den Zweiten Weltkrieg. Machte Oppenheimer zum Helden der Nation. Zum Leuchtfeuer. Und zur vielleicht wichtigsten Stimme der modernen Wissenschaft seit Albert Einstein.

Zwischenzeitlich erreichte Oppenheimer ein höheres Ansehen als der damals noch lebende Albert Einstein.
Zwischenzeitlich erreichte Oppenheimer ein höheres Ansehen als der damals noch lebende Albert Einstein.
Quelle: Universal Studios

Aber das ist nur die eine Hälfte der Geschichte. Und Nolan wäre nicht Nolan, würde er sie linear erzählen. Als hätte er eine Obsession damit, es seinem Publikum nicht einfach zu machen, springt sein Drehbuch während der dreistündigen Laufzeit unbeirrt zwischen Anfang, Mitte und Schluss umher. Aber genau darin liegt Nolans Genialität. So kommt nämlich nie das Gefühl auf, der Film würde einfach vor sich hin plätschern. Vielmehr erleben wir einen Dauerbeschuss von intensiven, dialoglastigen Szenen, in denen sich Schauspielerinnen und Schauspieler wie Emily Blunt, Robert Downey Jr., Matt Damon, Florence Pugh und Josh Hartnett wahrhaftig die Seelen aus dem Leib spielen.

Und natürlich Cillian Murphy.

Cillian Murphy als Oppenheimer: Eine oscarverdächtige Performance

Nolan hat grosses Interesse daran, uns Zuschauende in die Gedankengänge des von Cillian Murphy gespielten Oppenheimers einzubinden. Als jüdisch-amerikanischer Student in Europa – Quantenphysik wurde in Amerika lange Zeit verschmäht, weshalb Oppenheimer in Europa studierte – bekam er Faschismus und Antisemitismus am eigenen Leib zu spüren. Die Vorstellung, der NS-Staat würde die Atombombe vor den Amerikanern bauen, graute ihm. Entsprechend seine Entschlossenheit, selbst derjenige zu sein, dem das wissenschaftliche Wunder als Erster gelänge.

Nachvollziehbar? Ja. Trotzdem blieb seine Haltung zur Atombombe komplex. Manchmal sogar widersprüchlich. «Wenn deine Berechnungen ergeben, dass du uns in den Weltuntergang führst, dann stoppe dein Programm. Und teile deine Erkenntnisse mit den Nazis, damit sie’s nicht tun», sagt einmal der von Tom Conti gespielte Albert Einstein zu Oppenheimer, dem stets bewusst war, welche zerstörerische Kraft dessen Massenvernichtungswaffe besass. «Aber die Welt weiss es nicht. Sie wird es erst wissen, wenn wir sie benutzt haben», sagt Cillian Murphy mit seinen stahlblauen Augen im Film.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Oppenheimers Glaubwürdigkeit in Frage gestellt.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Oppenheimers Glaubwürdigkeit in Frage gestellt.
Quelle: Universal Studios

Er trägt ihn. Den Film. Jede einzelne Sekunde. Cillian Murphys Performance ist oscarverdächtig. Getrieben von der Euphorie, Geschichte zu schreiben. Naiv genug, sich einzureden, die Atombombe würde nicht nur den aktuellen, sondern alle kommenden Kriege beenden. «Bis jemand eine grössere Bombe baut», entgegnet ihm der von Benny Safdie gespielte, stets trotzige Edward Teller, der Jahre später massgeblich zum Bau der noch verheerenderen Wasserstoffbombe beitragen wird.

Cillian Murphys Oppenheimer will davon nichts wissen. Mit aller Macht verdrängt er die Ambivalenz seines moralischen Gewissens. Bis zum Trinity-Test – der Detonation der ersten Atombombe der Menschheitsgeschichte. Schauplatz: Los Alamos, New Mexico. Dort, wo hunderte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler jahrelang autark und von der Welt abgeschnitten gelebt haben, um Projekt Manhattan zu vollenden. Als Oppenheimer minutenlang still ins grelle Licht jener Explosion starrte, dicht gefolgt von der pilzartigen Wolke, soll er schliesslich aus dem Sanskrit des Bhagavad Gita zitiert haben, einer heiligen hinduistischen Schrift:

«Now I am become Death, the destroyer of worlds.»

Zwischen Schuldgefühlen und Weltuntergang

Und selbst dann soll es Oppenheimer noch gelungen sein, den Schaden, den seine Bombe später anrichten würde, zu unterschätzen. Erst als ihn erste Berichte über die wahre destruktive Kraft der über Hiroshima und Nagasaki abgeworfenen Bomben erreichen, begann Oppenheimer, seine Einstellung zum Atomprogramm radikal zu ändern. Seinen neu gewonnenen Einfluss auf die Wissenschaft und Politik zu nutzen, um vor der Gefahr des Wettrüstens zu warnen. Ja, vor dem Weltuntergang selbst.

Nolans Film schreckt nicht davor zurück, in der zweiten Hälfte des Films diesen sowohl mit sich selbst als auch mit der US-Regierung geführten Kampf in seiner ganzen Detailversessenheit zu zeigen. Manchmal auf Kosten des Überblicks. Besonders, wenn sich die Zeitsprünge zwischen den verschiedenen Verhandlungen und Anhörungen gegen Ende des Films in einem rasenden Stakkato häufen – wie schon in «The Prestige» aus dem Jahr 2006, Nolans bisher unterschätztestes Werk.

Besonders hier verlangt der Film seinem Publikum alles ab. Obwohl es von einem atmosphärisch wahnsinnig dichten Score von Ludwig Göransson getragen wird. Er erinnert zuweilen sogar an Hans Zimmers Musik zu «Blade Runner 2049» – nicht zu meinem Missfallen. Und wohl auch kein Zufall. Schliesslich vertonte früher der gebürtige Deutsche Nolans Filme. Seit «Tenet» ist es der Schwede.

Aber dann kommt er, der letzte emotionale Hammer, der gnadenlos auf uns Zuschauende einschlägt. Kurz vor dem Abspann. Und spätestens dann wird klar, dass Nolan erneut ein Meisterwerk von einem Film gelungen ist, der die kleinen, intimen Momente mit den grossen, fürs Kino geschaffenen Bilder kombiniert.

Fazit: Vielleicht sogar Nolans bester Film bisher

«Oppenheimer» ist das Kunststück gelungen, ein unaufgeregtes Spektakel zu sein. Eines, das im Kino gesehen werden muss. Bevorzugt in einem IMAX-Kinosaal. Denn Nolan hat seine Mischung aus Kammerspiel und Bildgewalt auf 70mm und im IMAX-Format gedreht. Als ob er und sein mittlerweile Stamm-Kameramann Hoyte Van Hoytema mit aller Macht versuchten, das langsame Abdriften der grossen Bilder in die Streamingwelt zu verhindern. Wie im Sommer 2020, als Nolan trotz Pandemie ein Kinorelease von «Tenet» durchsetzte.

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Tatsächlich ist Nolan einer der wenigen Regisseure, die noch atemberaubende, lebensechte Kulissen erschaffen und filmische Szenen ohne digitale Tricks einfangen. Nicht mal die Explosion der Atombombe soll am Computer entstanden sein. Damit bewirbt sich «Oppenheimer» locker als Höhepunkt von Nolans filmischem Genie.

Gestützt wird der Star-Regisseur von einigen der besten schauspielerischen Leistungen der letzten Jahre. Allen voran jene von «Peaky Blinders»-Star Cillian Murphy, der in seiner fünften Zusammenarbeit mit Nolan endlich die Hauptrolle spielen darf. Nolan meinte zwar, beim Schreiben des Drehbuchs nie die Schauspielenden im Kopf zu haben, die seine Charaktere spielen könnten. Das schränke ihn zu sehr ein. Aber bei Oppenheimer sei Murphy die einzige logische Wahl gewesen. Von Anfang an.

Zu Recht.


«Oppenheimer» läuft ab dem 20. Juli 2023 im Kino. Laufzeit: 180 Minuten. Freigegeben ab 12 Jahren.

Titelfoto: Universal Studios

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Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.» 

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