Steve Jobs erklärt mir Vision Pro
Wozu soll Apples AR-Headset gut sein? Der Apple-Gründer gab vor 18 Jahren unwissentlich eine Antwort auf diese Frage – die auch mich als Skeptiker überzeugt.
Steve Jobs wusste nicht, dass Apple elf Jahre nach seinem Tod das Vision Pro vorstellen würde. Trotzdem brachte er 2005 in einem Interview in 30 Sekunden auf den Punkt, wozu ein solches Headset gut sein kann. Der Apple-Gründer sprach damals mit Kara Swisher und Walt Mossberg über den iPod – und darüber, ob Video auf so einem Gerät sinnvoll ist. Er erklärte das Problem der unvereinbaren Prioritäten: Ein MP3-Player muss portabel sein, Filme brauchen schöne, grosse Bildschirme. Beides zusammen geht nicht. Und dann machte er einen Vergleich, der 18 Jahre später wie die Faust aufs Auge passt:
«Kopfhörer sind wundersame Dinge. Du ziehst dir ein paar gute Kopfhörer an und bekommst die gleiche Erfahrung wie mit grossartigen Lautsprechern. Es gibt keine Kopfhörer für Video. Etwas, das ich mitnehmen und anziehen kann und das mir die gleiche Erfahrung gibt wie mein 50-Zoll-Plasma zu Hause. Bis das jemand erfindet, hast du diese gegenläufigen Einschränkungen.»
Der Vergleich mit dem nötigen Kontext beginnt im folgenden Video bei 2:30.
Logisch! Das Vision Pro ist für Video, was Kopfhörer für Audio sind. Apple hat genau das gebaut, was Jobs 2005 wollte: Kopfhörer für Video.
Die Analogie ist so simpel und gleichzeitig treffend, dass sie meine Skepsis reduziert. Bisher war ich unsicher, ob Apples Einstieg in AR ein Erfolg wird. Ob das Vision Pro ein Problem löst. Es wirkte auf mich technisch revolutionär, aber in der Anwendung nicht visionär:
Der Grund für diese Einschätzung am Morgen nach der Keynote-Präsentation war Apples Marketing: Die Kalifornier zeigten das Headset hauptsächlich im Heimgebrauch. Menschen sitzen im Wohnzimmer und schauen einen Film auf einem virtuellen Fernseher. Menschen stehen im Büro und arbeiten auf einem virtuellen Monitor. Das Vision Pro wird als Ersatz präsentiert. Headset statt Heimkino. Headset statt Computer.
Apples AR-Chef Mike Rockwell rechtfertigte sogar den hohen Preis damit: «Wenn du dir den neuesten Fernseher kaufst, ein Surround-Sound System und einen leistungsstarken Computer mit mehreren hochauflösenden Displays, würdest du noch immer nicht an das herankommen, was das Vision Pro leistet.» Mit diesem expliziten und unglücklichen Vergleich schiesst sich Apple in den eigenen Fuss.
Mit Fernsehern und Workstations als Referenzgeräten kann das Vision Pro nicht konkurrieren – ganz sicher nicht in der ersten Generation und vielleicht überhaupt nie. In den gezeigten Situationen werden die wenigsten Leute die Nachteile eines AR-Headsets gegenüber stationären Geräten in Kauf nehmen. Egal wie bequem ein Headset ist, es ist immer unbequemer als kein Headset. Und da Apple visionäre neue Möglichkeiten für Heimanwender bisher schuldig bleibt, sehe ich keinen Grund, wieso ich meinen Monitor oder Fernseher durch ein Vision Pro ersetzen soll. Schon gar nicht in weitläufigen, offenen Räumen, die Apple mir in der Keynote zeigte.
Doch das Vision Pro muss gar kein Ersatz sein, bloss eine Ergänzung. Das Headset wird für Privatanwender nicht zuhause brillieren, sondern unterwegs. In Situationen, die Apple höchstens als Nebenbeispiele zeigte: im Flugzeug. Im Hotelzimmer. Im Campervan.
Ist meine Skepsis deshalb ganz verflogen? Nein. Ich hätte mir mehr konzeptionelle Innovationen gewünscht. Stattdessen ist das Prinzip der Vision Pro eine Kopie des Prinzips der Meta Quest Pro. Aber vielleicht braucht es gar keine frischen Visionen. Der Kopfhörer hat auch nicht das Musikhören erfunden. Vielleicht braucht es bloss die technisch revolutionäre Umsetzung einer alten Idee. Eine Plattform, auf der sich Entwicklerinnen und Entwickler entfalten können.
Die AR-Technologie soll Apple-CEO Tim Cooks grosser Wurf werden. Es mutet deshalb ironisch an, dass mir ausgerechnet sein Vorgänger Steve Jobs das Vision Pro näher bringt. Ob Cook den Interviewausschnitt kennt? Bestimmt. Ob der Vergleich den Weg in eine Marketingkampagne finden wird? Bestimmt nicht. Vergebenes Potenzial. Einen Ersatz für meinen Fernseher oder Monitor brauche ich nämlich nicht. Aber Kopfhörer für Video – das will ich.
Titelbild: Screenshot Apple KeynoteMein Fingerabdruck verändert sich regelmässig so stark, dass mein MacBook ihn nicht mehr erkennt. Der Grund: Wenn ich nicht gerade vor einem Bildschirm oder hinter einer Kamera hänge, dann an meinen Fingerspitzen in einer Felswand.