VisiCalc: Die erste Killer-App der Computergeschichte
Der PC hat seinen Durchbruch vor allem Software zu verdanken, die den Computer für Otto Normalverbraucher nutzbar macht. VisiCalc, ein Tabellenkalkulationsprogramm, revolutioniert Ende der siebziger Jahre die Art, wie wir Computer bedienen.
Sommer 1978. Dan Bricklin, ein Student an der Harvard Business School, fährt mit seinem Velo an einem Weingut vorbei, als er einen Entschluss fasst: Er will seinen länger gehegten Traum eines interaktiven, digitalen Taschenrechners in die Tat umsetzen. VisiCalc, wie das Programm später heisst, ist geboren. Das Programm gilt heute als die erste Killer-App der Computergeschichte.
Die Vorreiter
Bricklin ist nicht der Erfinder der elektronischen Tabellenkalkulation. Die ersten bekannten Ideen für solche Programme stammen aus dem Jahr 1961. Richard Mattessich, zu jener Zeit Professor an der University of California in Berkeley, leistet Pionierarbeit bei der Entwicklung computergestützter Tabellenkalkulationen für die Buchhaltung von Unternehmen. Bricklins VisiCalc ist jedoch in einigen Punkten einzigartig, als es 1979 herauskommt:
- Das Programm ist interaktiv
- Das Design und User Interface ist prägend für künftige Tabellenkalkulationsprogramme
- VisiCalc läuft auch auf günstigeren Rechnern
- Es lässt sich tatsächlich vermarkten
- VisiCalc ist ein Treiber für den Siegeszug des PCs
Die Idee Bricklins
Daniel Singer Bricklin erblickt am 16. Juli 1951 in Philadelphia das Licht der Welt. Dort besucht er die Akiba Hebrew Academy, bevor er am MIT (Massachusetts Institute of Technology) einen Bachelor of Science in Elektrotechnik/Informatik erwirbt. 1977 schreibt er sich an an der Harvard University ein, um seinen MBA zu machen.
Die Idee für VisiCalc kommt Bricklin im Frühjahr 1978 während eines Tagtraums. Er beschreibt die Szene folgendermassen:
Kurz gesagt stellt sich Bricklin ein Tabellenkalkulationsprogramm vor, dass er mit Maus und Tastatur an einem PC bedienen kann.
Im Sommer desselben Jahres fasst er dann den Entschluss, seine Idee in die Tat umzusetzen. Nach seinem Abschluss an der renommierten Harvard University will er gleich sein Business starten und das Tabellenkalkulationsprogramm verkaufen.
Vom Reissbrett zum bahnbrechenden Produkt
Bricklins Vision wird mit der Zeit realistischer und aus dem Heads-up-Display wird ein normaler Bildschirm. Er versucht auf einem Videoterminal, das an das Timesharing-System der Business School angeschlossen ist, einen Prototypen des Designs in Basic zu erstellen. Dabei entscheidet sich Bricklin für die Darstellung in Zeilen und Spalten und dass die Statuszeile dazu dient, die Formel und die Formatierung hinter den angezeigten Werten darzustellen.
Den Traum, zur Steuerung die Maus zu verwenden, muss Bricklin beim ersten Prototypen für PC im Herbst 1978 begraben, weil er das Programmieren nicht auf die Reihe bekommt. Stattdessen verwendet er das Game Paddle des Apple, eine Art Wählscheibe, die gedreht wird, um im Spiel zu interagieren.
Bricklin beschliesst, einen erfahreneren Programmierer einzuspannen. Sein früherer MIT-Kollege Bob Frankston erstellt den Seriencode. Damit läuft das Programm schneller, die Arithmetik wird verbessert und es ist nun möglich zu scrollen. Nicht nur das: Frankston erweitert das Programm und schafft es, den Code auf 20 KB zu reduzieren. Dadurch kann das Programm auch auf Mikrocomputern ausgeführt werden. Fun Fact: Trotz der geringen Grösse läuft der Code auf dem Low-End Apple II, für den er geschrieben wurde, nicht. Dieser hat nur 16 KB RAM. Deshalb läuft VisiCalc nur auf der 32-KB-Version des Apple II.
Bricklin und Frankston gründen im Januar 1979 die Firma Software Arts Corporation. Im Mai 1979 beginnt die Firma Personal Software von Dan Fylstra, später VisiCorp, mit der Vermarktung von VisiCalc. Ursprünglich konzipiert Bricklin mehrere Namen für das Programm. Marketingchef Dan Fylstra wählt den Namen «VisiCalc». Dabei handelt es sich um eine abgekürzte Form des Ausdrucks «visible calculator» also «sichtbarer Rechner».
VisiCalc kommt im November 1979 auf den Markt und wird sofort ein grosser Erfolg. Das Programm kostet 100 US-Dollar. Es verkauft sich so gut, dass viele Händler den Apple II mit VisiCalc bündeln. Der Erfolg von VisiCalc ist einer der Hauptgründe dafür, dass Apple zu einem erfolgreichen Unternehmen wird: Zehntausende der teuren 32 KB Apple II werden an Unternehmen verkauft, die sie nur für Tabellenkalkulation benötigen.
VisiCalc wird zu einem der Schlüsselprodukte, die dazu beitragen, den Mikrocomputer vom Bastlerschreibtisch ins Büro zu bringen. Das Programm zeigt am anschaulichsten den Nutzen von Personalcomputern für Unternehmen: Eine Arbeit, die zuvor 20 Stunden pro Woche in der Buchhaltung in Anspruch nimmt, ist mit ein paar Minuten Dateneingabe erledigt. Vor der Veröffentlichung dieser bahnbrechenden Software gelten Mikrocomputer als Spielzeug.
Die späten Jahre
Im Jahr 1981 verdient Software Arts über 12 Millionen Dollar an den Lizenzgebühren aus VisiCalc. Der Erfolg währt jedoch nicht lange. Bald kommen leistungsfähigere Konkurrenzprodukte auf den Markt.
1983 wird Lotus 1-2-3 veröffentlicht. Es ist ausschliesslich für den IBM-PC und andere MS-DOS-Computer erhältlich. Lotus funktioniert sehr ähnlich wie VisiCalc, was die Migration einfach macht. Es nutzt den enormen Speicherplatz der PCs, der viel grössere Tabellenkalkulationen ermöglicht, als der Apple II bewältigen kann.
Microsoft veröffentlicht 1985 Excel. Unzählige andere Entwickler heizen den Wettbewerb an, es kommt zu Spannungen zwischen VisiCorp und Software Arts. VisiCorp verklagt Software Arts, als das Unternehmen die Entwicklung von VisiCalc für den IBM-PC verzögert, um zunächst eine Version für den Apple IIe und III fertigzustellen.
Software Arts wird 1985 von Lotus gekauft, die Entwicklung von VisiCalc eingestellt. Bricklin gründet in der Folge mehrere Unternehmen. An den Erfolg von VisicCalc kann er nicht mehr anschliessen.
Technologie und Gesellschaft faszinieren mich. Die beiden zu kombinieren und aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten, ist meine Leidenschaft.