Hintergrund

Welche Dehnmethode am meisten Beweglichkeit verspricht

Ich bin zu unbeweglich. Mit dieser späten, aber schmerzhaften Erkenntnis mache ich mich auf die Suche: Welche Stretching-Methode verspricht die grössten Fortschritte?

Die Beweglichkeit, lese ich, nimmt zwischen dem zwanzigsten und fünfzigsten Geburtstag mit jedem Lebensjahrzehnt um etwa zehn Prozent ab. Das kann ja heiter werden. Ich bin jetzt 40, war schon früher kein Schlangenmensch und jeder neue Morgen gibt mir einen kleinen Ausblick auf die kommenden Jahrzehnte. Nachdem ich hölzern wie Pinocchio zur Kaffeemaschine stakse, dauert es eine Weile, bis wir beide betriebsbereit sind. Sie heizt gemächlich den Siebträger vor, bei mir kehrt langsam etwas Leben in die morschen Extremitäten zurück. Ein bisschen recken und strecken ist noch drin, dann kickt das Koffein. Der Alltag schlägt zu und kassiert die guten Vorsätze kalt lächelnd. Zeit für Sport nehme ich mir, aber einen Slot für zielgerichtetes Stretching habe ich mir nie zur Gewohnheit gemacht. Bis ich gemerkt habe, dass ich sogar zu unbeweglich zum Rudern bin.

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    Rudertraining und die Schmerzen im unteren Rücken

    von Michael Restin

Zumindest ein Ruderschlag aus dem Lehrbuch kann mir nicht gelingen, weil die hintere Oberschenkelmuskulatur zu stark verkürzt ist. Das ist nicht gut für die gesamte Körperstatik und führt dazu, dass der Rücken übermässig belastet wird. Diese Meta-Analyse kommt zur Erkenntnis, dass Schmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule eine Folge davon sind. Jedenfalls gehören verkürzte «Hamstrings» zu den Top-3-Problemen, die statistisch signifikant damit in Verbindung gebracht werden können. Kein Wunder, denn sie kippen das Becken aus seiner natürlichen Position. Die Bandscheiben heulen auf, ein Hohlkreuz ist häufig die Folge. Für mich war mein Ruder-Frust ein Weckruf und seit einigen Wochen dehne ich so intensiv wie nie zuvor: Fünf- bis sechsmal die Woche, je zwanzig Minuten.

Aus dem Sportstudium ist bei mir vor allem hängen geblieben, dass die Geschichte des Dehnens wechselhaft ist. Es gab und gibt verschiedene Moden. Früher wurde dynamisch-wippend gedehnt, dann war es eine zeitlang verpönt und statisches Stretching en vouge. Inzwischen ist das Feld ausdifferenziert, es gibt PNF, AC- und CR-, CR-AC – ein ganzes Alphabet von Ansätzen, in denen es darum geht, den Muskel vor der Dehnung oder seinen Gegenspieler während der Dehnung anzuspannen. Ausserdem gibt es natürlich unterschiedliche Ziele: Den Muskel vor oder nach einer Belastung zu dehnen ist etwas anderes, als dauerhaft die Beweglichkeit verbessern zu wollen. Wie lange, wie häufig und nach welcher Methode ich dehnen sollte, um die grössten Erfolge zu erzielen? Das weiss ich nicht. Also mache ich mich auf die Suche nach dem momentanen Stand des Irrtums.

Die ROM wird nicht an einem Tag verbessert

Um zu checken, ob ich mit dem statischen Ansatz auf dem richtigen Weg bin, lese ich mich durch die Literatur und stütze mich auf ein Review aus dem Jahr 2018, das sich im International Journal of Sports Medicine mit exakt den Aspekten befasst, die mich interessieren. Es fasst die Erkenntnisse verschiedener Studien zusammen, die sich mit der Frage beschäftigen, wie sich unterschiedliche Dehnmethoden auf die «Range of Motion» (ROM) auswirken. Diese Bewegungsamplitude, also die Distanz, über die sich ein Gelenk bewegen kann, will ich vergrössern.

Dabei blockieren nicht nur verkürzte Muskeln, wie überall im Körper ist es ein Zusammenspiel. Von Muskeln und Sehnen, Nerven und Reflexen. Wird ein Muskel schnell in die Länge gezogen, lösen die Muskelspindeln, die die Spannung kontrollieren, einen Dehnungsreflex aus. Der Muskel wehrt sich gegen die Zerreissprobe, indem er kontrahiert. Dein Gehirn wird dabei gar nicht erst gefragt, der Befehl läuft übers Rückenmark. Wenn du beim Lesen so müde wirst, dass du einnickst, wird dich so ein Eigenreflex vor dem Genickbruch retten. Beim dynamischen Dehnen ist er ein Grund, dass es zeitweise in Verruf geraten ist und als verletzungsgefährdend kritisiert wurde. Und dann ist da noch das Bindegewebe, das uns einschränkt: Die Muskelhülle, die Faszien, die wir seit einigen Jahren alle so fleissig mit Blackroll & Co. kneten, um geschmeidig und beweglich zu sein.

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    Rollenziele: Was Faszientraining bringt

    von Michael Restin

All diese Faktoren spielen in die Fragestellung rein. In der Meta-Analyse, die ich mir genauer angeschaut habe, wurden Studien zu (aktiven und passiven) statischen Dehnung, zur ballistischen (wippenden, dynamischen) Dehnung und zu PNF-Stretching als eine Form des Anspannungs-Entspannungs-Dehnens untersucht. Die gute Nachricht: Nach mindestens vier Wochen brachten alle Ansätze deutliche Erfolge. Bei statischem Stretching waren sie mit einer durchschnittlich um 20.9 Prozent verbesserten ROM am höchsten, wobei es keinen signifikanten Unterschied zwischen aktiven und passiven Übungen gab. Die PNF-Methode kam auf 15 Prozent und ballistische Formen sorgten im Schnitt für 11.65 Prozent Zuwachs bei der Beweglichkeit.

Erste Erkenntnis: Die ROM wird nicht an einem Tag verbessert. Aber sie wird besser, egal auf welche Methode du setzt.

Wie lange ist lang genug?

Zu dieser Frage wurde die Trainingszeit pro Woche ebenso ausgewertet wie die Dauer pro Session. Intuitiv könnte man meinen, dass hoher Zeitaufwand in diesem Fall auch grössere Fortschritte bringt. Das ist nur halb richtig. Es scheint relativ egal zu sein, ob du pro Session 60, 80 oder 120 Sekunden in der Dehnung verbringst. Zwar gibt es einen Trend in die zu erwartende Richtung, der ist aber statistisch nicht signifikant. Wichtiger scheint zu sein, dass du dich dem Muskel pro Woche insgesamt mehr als fünf Minuten widmest. Auch hier wurden die Ergebnisse derer, die über 10 Minuten in der Dehnung verbracht haben, nicht deutlich besser. Daraus folgt, dass fünf Sessions von mindestens einer Minute pro Woche (zum Beispiel 3x20 oder 3x30 Sekunden) ein effizienter Weg sind, die Beweglichkeit zu steigern.

Zweite Erkenntnis: Mach dich locker! Lieber häufiger als lange. Viel hilft nicht zwingend viel.

Wie intensiv soll die Dehnung sein?

Hier kommt das grosse «Aber». Der Punkt, an dem viele Studien schwammig werden. Die meisten verlassen sich auf das subjektive Empfinden der Probanden, arbeiten mit der maximal tolerierten Dehnung, irgendeinem Prozentsatz davon oder dem Punkt, an dem es unangenehm wird. Kurz: Die Intensität ist nicht wirklich vergleichbar und Erfolge könnten darauf beruhen, dass sich in erster Linie die Schmerztoleranz der Personen verändert hat. Erst nach ungefähr drei Wochen scheinen sich Muskeln, Sehnen und Nervensystem dauerhaft anzupassen. Vorher lernst du vor allem, zu leiden.

In jedem Fall ist es ein langer Weg zur besseren Beweglichkeit. Für die statische Dehnung spricht, dass sie die Eigenreflexe runter reguliert, wenn du dich langsam in eine moderate Position begibst. Zumindest lässt sich das am Sehnenreflex oder Hoffmann-Reflex messen, wie diese Studie zeigt. Darin ist auch der Effekt des Anspannungs-Entspannungs-Dehnens beschrieben: Wenn du den zu dehnenden Muskel vorher anspannst, ist der Dehnreflex anschliessend für etwa fünf Sekunden schwächer.

Dritte Erkenntnis: Don't hassle the Hoffmann Reflex! Dehne statisch und steigere dich langsam.

Warum sollte ich mir selbst auf die Nerven gehen, wenn ich entspannen und beweglicher werden will? Die gute Nachricht ist für mich, dass ich mit statischen Übungen auf einem erfolgversprechenden Weg bin und sogar guten Gewissens deutlich weniger Zeit damit zubringen kann. Schon eine Minute pro Tag mindestens fünfmal pro Woche sollte genügen, um langfristig Erfolge zu erzielen. Die schlechte Nachricht: Da sind noch gut 600 andere Muskeln, von denen einige etwas mehr Zuwendung gebrauchen könnten. Ich habe mir fest vorgenommen, weiterzumachen. Es bleibt also (ent-)spannend!

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