Wenn das Marketing das Sagen hat: Zwei Aussteigerinnen blicken hinter die Kulissen der Kosmetikindustrie
Jede und jeder von uns hat Pflegeprodukte im Bad stehen und vertraut auf ihre Wirkung. Ohne dabei zu wissen: Die Kosmetikindustrie entwickelt die Produkte weniger mit Blick auf die Wirkung, sondern mehr gesteuert vom Marketing. Das behaupten zumindest die US-Chemikerinnen Victoria Fu und Gloria Lu.
Victoria Fu erinnert sich noch ganz genau: Ihre Mutter steht im Badezimmer, umgeben von Cremes, teuren Gesichtswassern und hochwertigen Essenzen. Damals staunt die Teenagerin, dass in diesem Badezimmer Hunderte von Dollars stehen in Form kleiner Dosen, Ampullen und Tuben. Aber sie versteht auch: Für ihre Mutter waren die teuren Produkte eine Art Absicherung, nach dem Motto: «Wenn ich so viel Geld dafür bezahle, muss es funktionieren.»
Eine Marketing-Falle, in die viele Konsumentinnen und Konsumenten der Schönheitsindustrie tappen. Die wenigsten wissen, was sich hinter ihrer täglichen Hautpflege verbirgt, geschweige denn welche Pflege ihre Haut überhaupt benötigt und welche nicht. Heute arbeitet Victoria als Chemikerin und erkennt Marketing-Tricks wie diesen – also «teuer = gut » –, sofort. Mit ihrer heutigen Geschäftspartnerin Gloria Lu arbeitet sie viele Jahre für den Kosmetikkonzern L’Oréal, bevor die beiden Frauen den Mainstream hinter sich lassen und das Indie-Beauty-Label «Chemist Confessions» gründen.
Passion Kosmetik: Wie Hautprobleme eine große Leidenschaft entfachen
Überforderung vor dem Kosmetikregal – das kennen Gloria und Victoria nicht nur aus ihrer beruflichen, sondern auch aus ihrer persönlichen Erfahrung. Victoria selbst kämpft ihr Leben lang mit Hautproblemen. Zur Bekämpfung ihrer Akne greift sie zu unzähligen Produkten, die das Blaue vom Himmel versprechen. Im Video-Call erinnert sie sich an den Leidensweg, wobei ihre anfangs scherzhafte Art bald einen ernsthaften Ton einschlägt: «Ich wollte meine ölige Haut einfach austrocknen. Heute weiß ich: Das ist das Schlimmste, das man tun kann.»
Die eigenen Hautprobleme und die Erfahrung, wie tabu das Thema «Akne» ist, entfacht die Leidenschaft für die Kosmetik- und Beautybranche. Victoria wechselt ihr Hauptfach an der Uni von Biologie zu Chemie, um weiter im Bereich der Hautpflege forschen zu können. Nach dem Abschluss ihres Studiums beginnt sie bei L’Oréal in der Produktentwicklung zu arbeiten.
Im Labor des Kosmetikkonzerns weicht der Enthusiasmus der Ernüchterung
Als Chemikerin entwickelt sie dort die Formeln hinter den Ampullen, Cremes und Essenzen, die Konsumentinnen wie ihre Mutter seit jeher zum Kauf unzähliger Produkte verführen. Konkret ist sie dafür verantwortlich, die Inhaltsstoffe der Produkte im Labor zu untersuchen und diese in eine ausgewogenes Mischverhältnis zu bringen. Im Labor des Konzerns lernen sich die beiden Frauen und späteren Geschäftspartnerinnen Gloria und Victoria kennen.
Auch Gloria ist Chemikerin und sitzt bei unserem Gespräch via Zoom neben Victoria. Ihr Leidensweg hin zu gesunder Haut sieht so aus: «Als Studentin hatte ich trockene Haut, und sie ist immer trockener geworden, immer unangenehmer. Ich bildete mir ein, dass ich mir noch teurere Produkte kaufen müsste», erzählt mir die Unternehmerin, während ihr Victoria zustimmend zunickt. Als sich Gloria schließlich an der Theke eines Drogeriemarktes beraten lässt, wird sie dazu überredet, ein Produkt für 70 Dollar zu kaufen. «Ich war Studentin, ich hatte kein Geld. Trotzdem habe ich die 70 Dollar dafür bezahlt,» erinnert sich Gloria. Denn das Produkt mit dem schicken Namen verspricht, ihre Haut im Nu mit ausreichend Feuchtigkeit zu versorgen. Heute weiß Gloria: Dabei handelte es sich nur um eine Pflege auf Wasserbasis, ohne entscheidende Öl-Komponenten – die aber sind unerlässlich: «Die Creme hatte keine Inhaltsstoffe, um die Feuchtigkeit auch in der Haut zu halten. Nach einer Woche hat sich die Haut in meinem Gesicht abgelöst, weil sie zu ausgetrocknet war.»
Persönliche Erfahrungen wie diese machen für Gloria die Stelle beim Kosmetikriesen zu mehr als nur einem Job: Sie will etwas bewegen. «Nicht nur ich, auch meine Freunde und Familie hatten keinen Durchblick mehr, wenn es um Kosmetik ging», erinnert sie sich. «Über diese Themen aufzuklären war für mich eine große Motivation.»
Wenn das Marketing die Produktentwicklung bestimmt
Doch schon bald weicht der Enthusiasmus, mit dem beide Frauen im Konzern anfangen, der Ernüchterung. Eine effektive Hautpflege herstellen? Hat im Riesenkonzern keine Priorität. «Ich habe mich in Victorias Labor-Umkleide versteckt und über die Arbeit gejammert», beschreibt Gloria den Beginn ihrer Freundschaft. Die große Frustration bei L’Oréal kam nicht von ungefähr: «Du bist nur ein kleines Rad in einer riesigen Maschine. In einer Industrie, in der Marketing einfach alles ist, hast du als Chemikerin keine Mitsprache, was produziert wird», sagt sie. Victoria nickt und fügt hinzu: «Die Konzerne beobachten und prognostizieren Trends Jahre im Voraus. Im Labor bekamen wir als Chemikerinnen dann ein Briefing aus der Marketing-Abteilung, die die chemische Formel bestimmt.»
In der Schönheitsindustrie gibt es demnach nur eine Abteilung, die das Sagen hat: das Marketing. Deren Konzept bestimmt die Produktion im Labor, wo die Chemikerinnen und Chemiker mit ihrem Knowhow sitzen. Meist drehen sich neue Produkte um einen Schlüsselinhaltsstoff, der gerade im Trend liegt. «Im Mittelpunkt stehen Inhaltsstoffe, mit denen gute Geschichten erzählt werden können und nicht Inhaltsstoffe, die funktionieren», sagen die Chemikerinnen. «Geschichten wie: Die handgeschöpften Einhorntränen von den Bergen Tibets. Ja, Geschichten sind wichtig, aber als Chemikerinnen ging es uns um mehr.»
Schwach dosierte Inhaltsstoffe, wenig Wirkung: Belügt die Beauty-Industrie ihre Kundschaft?
Der Markt ist kompetitiv, die Regeln simpel: Mehr Produkte bedeuten höhere Chancen im Wettbewerb. Der Druck, neue Produkte auf den Markt zu bringen, ist hoch. Am Ende seien die Produkte nicht gut durchdacht und die chemischen Formeln dahinter zum Teil sogar ziemlich schlecht, darüber sind sich die Chemikerinnen einig. Die Konzentrationen der Inhaltsstoffe seien zum Teil zu schwach und damit beinahe wirkungslos. Leider passt das nicht damit zusammen, was uns auf den Produktverpackungen versprochen wird. Kundinnen und Kunden werden nicht bewusst angelogen, sagen die Expertinnen. Aber es wird auch nicht die ganze Geschichte erzählt: «Das Problem ist: Die Beauty-Konzerne verstehen nicht die ganze Geschichte. Sie sprinten auf ein Ziel zu, ohne zu wissen, was sie tun.»
Ein gutes Beispiel dafür sind den Chemikerinnen zufolge Mikrobiome. Sie werden in Form von Nahrungsergänzungsmitteln verabreicht und sollen die Darmflora in Balance bringen. Die Beauty-Industrie nutzt den Trend für sich, auch wenn nicht viel dafürspricht: «Sie versucht, die Erfolge von Mikrobiomen eins zu eins auf die Gesichts- und Hautpflege zu übertragen. Dafür gibt es aber nicht ausreichend Daten», sagt Victoria. Die Fehlinformation sorgt für unerfüllte Erwartungen seitens der Verbraucher:innen. Der Trend Mikrobiome habe durchaus seine Berechtigung. Ihn aber auf die Kosmetik zu übertragen, würde weit über das Ziel hinausschießen.
Nach fünf Jahren wird der Frust zu groß und die beiden Kolleginnen, die längst Freundinnen geworden sind, kündigen ihre Festanstellung. Erst überlegen sie, der Beautybranche ganz den Rücken zu kehren. Gloria und Victoria gönnen sich ein Jahr Auszeit. Der Abstand vom Job-Alltag bringt die beiden Frauen zu dem Entschluss, ihren eigenen Weg zu gehen – innerhalb der Industrie. «Wir haben viel gelernt bei L’Oréal, aber natürlich haben wir uns auch immer gefragt, was wir anders oder besser machen könnten», erinnern sich die Gründerinnen. «Und dann wollten wir einfach unser eigenes Ding machen.»
«Chemist Confessions»: Sie wollen Beauty-Produkte verkaufen, die auf wissenschaftlichen Daten basieren
In der Auszeit launchen die beiden ihren Instagram-Account, um dort über Inhaltsstoffe von Hautpflegeprodukten aufzuklären. Sie bemerken: Ihr Insider-Wissen ist bei der Community gefragt. Also gründen sie ihr Indie-Label «Chemist Confessions», das durchaus als Manifest gegen die Mainstream-Beauty-Industrie zu verstehen ist. Auf ihren Social-Media-Kanälen klären sie selbstbewusst über falsche Versprechen der Schönheitsindustrie auf. Konsument:innen sollen sich durch den Dschungel der Hautpflegeprodukte mit handfesten Informationen aus der Wissenschaft an die Hand genommen fühlen und so bei Kaufentscheidungen unterstützt werden. Es folgen die gleichnamige Webseite, ein Podcast und das Buch «Skincare Decoded».
Mit der Zeit experimentieren sie auch mit ihrer eigenen Produktlinie: Endlich kommt für die beiden Frauen eine Chance, die Dinge in die eigene Hand zu nehmen und wirklich etwas in der Industrie zu verändern: «Wir sind Chemikerinnen, Produktentwicklung ist unser Job. Wir wollten Produkte herstellen, die auf wissenschaftlichen Daten basieren, und die Produktion von Anfang an richtig machen.»
Mit ihrem Instagram-Auftritt und dem Podcast verdienen die beiden Unternehmerinnen übrigens kein Geld: «Als Plattform müssten wir Werbung für Produkte machen, von denen wir vielleicht gar nicht überzeigt sind. So bleiben unsere Inhalte unabhängig.»
Aufklärung als Weg aus der Marketing-Falle
Die Freundschaft zueinander ist heute wichtiger denn je, betont Victoria: «Es gibt so viele Momente, die schwer und unerwartet sind. Ohne die richtige Partnerin hätte ich eine harte Zeit gehabt. Unser gemeinsamer Weg hat uns zusammengeschweißt.»
Am Ende des Weges steht für die beiden Frauen vor allem ein Ziel: Der gut informierte Konsument und die aufgeklärte Konsumentin. Nur so könne die Marketing-Maschinerie hinter den unzähligen Kosmetikprodukten in unseren Badezimmerschränken entkräftet werden, sagen die Unternehmerinnen. Ein großes Ziel, für das es noch viel zu tun gibt: «Die passende Hautpflege zu finden, kann für viele sehr irritierend und fast schon einschüchternd sein. Solange das so ist, wird unsere Arbeit nicht enden», sagt Victoria.
Titelbild: shutterstockIch liebe blumige Formulierungen und sinnbildliche Sprache. Kluge Metaphern sind mein Kryptonit, auch wenn es manchmal besser ist, einfach auf den Punkt zu kommen. Alle meine Texte werden von meinen Katzen redigiert: Das ist keine Metapher, sondern ich glaube «Vermenschlichung des Haustiers». Abseits des Schreibtisches gehe ich gerne wandern, musiziere am Lagerfeuer oder schleppe meinen müden Körper zum Sport oder manchmal auch auf eine Party.