«Wenn ich von Metaversen im Plural höre, ist das ein Warnsignal»
Aaron Frank forscht seit zehn Jahren an virtuellen Welten. Das macht er an der «Singularity University» in Kalifornien. Im Interview beantwortet mir der Tech-Experte meine brennendsten Fragen zum Metaverse.
Was ist das Metaverse – und wann kommt es? Fristen wir unsere Arbeitstage bald als kantige Facebook-Avatars in Mark Zuckerbergs Pixeluniversum? Oder stecken wir beim Fortnite-Gamen knietief drin, ohne es zu merken?
Bei diesen Fragen spalten sich nicht nur die Geister auf der Digitec-Redaktion. Um der Sache genauer auf den Grund zu gehen, habe ich bei jemandem nachgefragt, der sich auskennt. Aaron Frank arbeitet als Berater, Lehrer und Forscher an der Singularity University im kalifornischen Santa Clara – in virtuellen Welten fühlt er sich zu Hause.
Aaron, du arbeitest bei der Singularity University im Silicon Valley, das klingt nach einem spannenden Ort. Was macht ihr da genau?
Aaron Frank: Ja, es ist ein interessanter Ort. Die Singularity University will die Rolle des rasanten Wachstums in der Technologie verstehen – und was deren Konsequenzen für die Wirtschaft, Gesellschaft und Politik unserer globalen Zivilisation sind.
Und was ist deine Aufgabe innerhalb der Organisation?
Mein Forschungsgebiet ist die Entwicklung von Technologien im Bereich der Augmented Reality (AR) und der Virtual Reality (VR) sowie die Entwicklung und Nutzung virtueller Online-Umgebungen. Mit virtuellen Welten beschäftige ich mich also seit Jahren.
Wann hast du das erste Mal vom Metaverse gehört?
In den Medien wird oft erwähnt, dass das Wort aus Neil Stevensons Roman «Snow Crash» stammt. Ich las das Buch vor etwa sieben Jahren – und ich glaube, das war das erste Mal, dass ich darauf gestossen bin. Der Begriff «Metaverse» schwirrt aber schon eine ganze Weile in der Branche herum.
Was ist das häufigste Missverständnis über das Metaverse?
Die Mainstream-Berichterstattung über das Metaverse ist lückenhaft. Oft wird das Metaverse in einem Satz beschrieben und es wird davon ausgegangen, dass die Lesenden den Hintergrund verstehen. Hinter dem Begriff verbirgt sich aber ein ganzes Bündel an Konzepten, die aus praktischen Gründen zusammengeschnürt und mit dem Etikett «Metaverse» versehen wurden. Das grösste Missverständnis ist, wenn der Plural verwendet wird. Es ist ein klares Warnsignal, wenn von «Metaversen» gesprochen wird – das zeigt mir, dass die Person neu im Bereich ist. Denn es gibt keine multiplen «Metaversen».
Was stellen sich die Menschen vor, wenn sie über mehrere «Metaversen» sprechen?
Dann beschreiben sie im Grunde virtuelle Online-Welten wie Roblox, Minecraft oder Fortnite – und bezeichnen sie als verschiedene «Metaversen». Das ist falsch.
Ok, was ist denn deine Definition des Metaverse?
Das Metaverse ist das Internet. Es ist aber ein Internet, das eine Vielzahl von Veränderungen erfahren hat. Es basiert auf der Idee von Spatial Computing und Game Engines, mit welchen eine Sammlung an virtuellen Online-Umgebungen geschaffen wird. Kurz gesagt: Das Metaverse ist das Internet, aber es ist eine dreidimensionale virtuelle Welt, die auf Game Engines basiert und die wir online als Avatar erleben. Das ist keine vollständige Definition, aber ich will es in diesem Kontext zugänglich halten.
Das heisst, zurzeit gibt es gar kein Metaverse. Wieso reden denn alle darüber?
Ich bin überrascht, wie schnell es zu einem Mainstream-Phänomen geworden ist. Das, weil die zugrundeliegenden Technologien nicht wirklich bereit für den Mainstream-Einsatz sind. Es ist ein bisschen so, wie wenn wir im Supermarkt eine steinharte Avocado sehen. Wir sind begeistert und können es kaum erwarten, sie zu Hause zu essen. Aber wir müssen uns gedulden und die Avocado reifen lassen – sie ist noch nicht so weit. Das ist bei vielen der zugrundeliegenden Technologien genauso. Das gilt sowohl für die Hardware, zum Beispiel VR-Headsets, wie auch für die Netzwerktechnologien, also niedrige Latenzzeiten und Bandbreitenkapazität. Wir brauchen noch viel mehr Rechenleistung, um die Vision des Metaverse zu realisieren und die optischen Herausforderungen der VR- und AR-Brillen zu lösen.
Das fertige Metaverse ist also noch Zukunftsmusik – trotzdem interessieren mich die einzelnen Bausteine. Was meinst du genau mit Spatial Computing?
Es ist eine Branchenbezeichnung für AR- und VR-Technologien – zudem schwirren weitere Begriffe wie «Mixed Reality» oder «Immersive Computing» in Verbindung dazu herum. Alle diese Technologien wollen im Wesentlichen den dreidimensionalen Raum nutzen, um einen Computer zu bedienen. Wir sind heute so sehr an Maus und Tastatur als Computerschnittstellen gewöhnt, dass wir sie als selbstverständlich erachten. Dabei sind sie nicht besonders intuitiv. Wir müssen nämlich zuerst lernen, Maus und Tastatur zu nutzen. Aber wir sind ja dreidimensional denkende Wesen, wir leben im dreidimensionalen Raum. Deshalb ist Spatial Computing sinnvoll.
Und welche Rolle spielen Game Engines im Metaverse?
Sie werden ein zentraler Bestandteil des Metaverse sein. Es ist ein Software-Tool, das Entwicklerinnen und Entwickler verwenden, um virtuelle Umgebungen wie heute Roblox oder Fortnite zu erstellen. Sie werden in Zukunft einen grossen Teil der technologischen Infrastruktur ausmachen. Dabei geht es nicht nur um Videospiele im Sinne einer Freizeitbeschäftigung, sondern um jede Art von Simulationen. Auch in unserem Berufsleben werden wir viel mehr Erfahrungen sammeln, die durch Game Engines vermittelt werden – zum Beispiel als Industriedesigner, die neue Autos oder Gebäude mithilfe Game Engines entwerfen.
Und was ist der letzte Baustein für das Metaverse?
Der letzte Baustein ist die Kombination von Spatial Computing und Game Engines. Durch die beiden Werkzeuge können wir immersive, virtuelle Welten aufbauen. Also Umgebungen, die wir als Avatar besuchen, die wie Videospiele aussehen, und die wir dreidimensional erleben können.
Inwiefern hängt die virtuelle Wirtschaft – und ohne tiefer darauf einzugehen, Buzzwords wie Blockchain, NFTs – mit dem Metaverse zusammen?
Hier ist es erst wichtig, zu verstehen, dass es zwei klar verschiedene Design-Ideologien gibt, die entweder geschlossene oder offene Plattformen beinhalten. Mit geschlossen meine ich zentralisierte Plattformen wie Meta, Roblox, Fortnite oder Second Life. Das sind zentral verwaltete Unternehmen. Sie legen Bedingungen für ihre User fest und müssen diese überwachen und durchsetzen. Und die wahrscheinlich heisseste Frage in diesem Bereich ist: Werden wir uns in eine Welt bewegen, in der wir solche geschlossenen Plattformversionen von virtuellen Welten haben?
Was wäre die andere Option?
Im Gegensatz dazu steht die offene Vision des Metaverse. Dieses ist auf sogenannten Web3-Protokollen aufgebaut – Web3 ist ein weiteres Buzzword, das eine Sammlung von Konzepten enthält. Es baut auf den Prinzipien öffentlicher Blockchains und beruht auf dezentraler Governance. Offene Plattformen sind also auf der öffentlichen Blockchain aufgebaut. Das bekannteste Beispiel für öffentliche Blockchains ist die Ethereum-Blockchain, worauf viele vom Metaverse inspirierte Erfahrungen wie Decentraland basieren. Eine virtuelle Welt, in der jede Parzelle von der Ethereum-Blockchain authentifiziert ist. Wenn du dort ein Stück Land besitzt, gehört es dir. Es gibt keine zentrale Regierungsbehörde, die kommt und dir das Land wegnehmen kann. Sie können dir nicht vorschreiben, was du damit machen sollst. Aus einem ideologischen Blickwinkel betrachtet, ist das wirklich interessant. Decentraland funktioniert zudem auf Basis einer eigenen Spielwährung, «Mana» genannt. Auch diese Währung kannst du kaufen. Bei diesem Beispiel gibt es weder eine Zentralbank noch eine Organisation, die Mana drucken kann. Es ist alles eine Art Crowd-Management, während Second Life eine geschlossene Plattform ist, die zentral von «Linden Lab», dem Herausgeber, verwaltet wird.
Wieso ist die Unterscheidung offener und geschlossener Plattformen wichtig?
Die Unterscheidung dieser Design-Ideologien ist zentral. Denn NFTs sind nur für die offene Vision eines Metaverse relevant. Im Grunde geht es darum: Wird es ein offenes, interoperables Metaverse geben, in dem ich meine Identität und mein Inventar, meine virtuellen Gegenstände von einem Erlebnis zum nächsten (via NFTs) mitnehmen kann? Oder werden wir eine Welt haben, in der wir geschlossene Plattformen wie Facebook oder Second Life haben? Mein Gefühl sagt mir, dass wir wahrscheinlich eine Mischung aus beidem haben werden.
Also ist das offene Metaverse besser?
Ich möchte klarstellen, dass ich keinen Ansatz bevorzuge. Es gibt bei beiden Vor- und Nachteile. An manchen Tagen bin ich voll und ganz für diese Art von dezentralen Web3-Protokollen. An anderen Tagen bin ich entsetzt über deren fehlende Content-Moderation und mangelnden Verbraucherschutz. Geschlossene Plattformen können sich anpassen und schädliche Inhalte schnell entfernen, aber gleichzeitig besteht ein grosses Risiko des Überwachungskapitalismus. Es besteht die Möglichkeit, das Verhalten der User zu verfolgen und diese Daten zu verkaufen. Bei beiden Versionen der virtuellen Wirtschaft gibt es Abstriche.
Kannst du uns sagen, wie wir das Metaverse in Zukunft nutzen werden?
Schwer zu sagen. Es findet gerade eine Art Generationswechsel statt. Denn die Kinder von heute wachsen mit virtuellen Online-Umgebungen auf. Frühere Generationen trafen sich noch im Skatepark oder im Keller eines Freundes. Der 16-jährige Sohn eines Bekannten verbringt die meiste Freizeit mit Kumpels auf Roblox, Minecraft oder Fortnite. Virtuelle Umgebungen sind im Grunde soziale Räume geworden. Und das ist die hilfreichste Art und Weise, über all diese Technologien nachzudenken: Sie sind Kommunikationsmittel – neue Möglichkeiten, um mit Menschen in Kontakt zu treten. Der wichtigste Bestandteil dieser virtuellen Online-Räume ist, dass andere Menschen und Freunde dort sind. Aus diesem Grund schufen sich meine Eltern – die Grosseltern sind – ein iPad an. Sie wollten in der Lage sein, sich mit ihren Enkelkindern zu vernetzen. Diese Erfahrung war so wichtig für sie, dass sie ihr Technologieverständnis erweiterten. Sie interessieren sich nicht für das iPad. Sie interessieren sich dafür, dass sie mit ihren Enkeln, die am anderen Ende des Landes leben, FaceTime machen können. Wenn die Technologien also gut genug sein werden, kann ich mir eine Welt vorstellen, in der meine Eltern eine AR-Brille aufsetzen und ihre Enkelkinder ihnen in Echtzeit als Hologramme gegenübersitzen.
Kannst du mir zum Schluss sagen, wann die Avocado «essbar sein» wird – wann das Metaverse kommt?
Es wird ein wichtiges Zeichen sein, wann immer Apple das veröffentlicht, woran sie arbeiten. Es ist ein schlecht gehütetes Geheimnis, dass Apple intensiv an einem Spatial-Computing-Gerät arbeitet, das wahrscheinlich mit einer Plattform verbunden wird. Dabei konzentrieren sie sich offenbar mehr auf den Schnittstellenaspekt. Zumindest hat Apple öffentlich erklärt, dass es nicht ihr Ziel ist, eine allumfassende, immersive Umgebung zu schaffen, in der man seine ganze Zeit verbringt, im Gegensatz zu Meta und Mark Zuckerberg. Apple versucht eine Plattform zu schaffen, die für ganz bestimmte Aufgaben nützlich sein wird.
Wie lange wird das noch dauern?
Um mehr Akzeptanz für die neue Technologie zu schaffen, brauchen wir erst bessere Hardware und bessere Schnittstellen. Ich glaube nicht, dass unsere Grosseltern Xbox-Controller in die Hand nehmen werden, um mit ihren Enkeln zu telefonieren. Wir brauchen eine Welt, in der man eine Brille aufsetzt und die Computerumgebung ganz einfach mit den Händen bedienen kann. Wann wird die Avocado reif sein? Ich glaube, wir sind noch Jahre davon entfernt. Ich weiss nicht genau, wie viele – aber Jahre.
Was ist dein direkter Rat für diejenigen, die sich mit dem Metaverse vertraut machen wollen?
Einem Business-Publikum empfehle ich jeweils, das Wort Metaverse einfach zu vergessen. Das Wort ist nicht hilfreich. Stattdessen ist es sinnvoller, sich auf die wichtigsten Bestandteile zu konzentrieren. Spatial Computing, Game Engines, virtuelle Welten – kann eine dieser Technologien vielleicht eine geschäftliche Herausforderung lösen? Normale Durchschnittsmenschen, die das Metaverse besser verstehen möchten, müssen aber weder studieren noch über die Blockchain lesen. Ich ermutige sie einfach dazu, Online-Erlebnisse mit Avataren zu suchen und dort ein bisschen herumzuspielen. Zum Beispiel bei Decentraland. Oder: Kinder fragen – ich habe am meisten über das Metaverse durch meinen achtjährigen Neffen gelernt, der Roblox liebt.
Das ist ein guter Ratschlag. Vielen Dank für das Interview, Aaron.
«Ich will alles! Die erschütternden Tiefs, die berauschenden Hochs und das Sahnige dazwischen» – diese Worte einer amerikanischen Kult-Figur aus dem TV sprechen mir aus der Seele. Deshalb praktiziere ich diese Lebensphilosophie auch in meinem Arbeitsalltag. Das heisst für mich: Grosse, kleine, spannende und alltägliche Geschichten haben alle ihren Reiz – besonders wenn sie in bunter Reihenfolge daherkommen.