Wieso Schwyzerdütsch und Plattdüütsch heimliche Sprachgeschwister sind
Die Menschen in Zürich und Hamburg verstehen einander besser, als du denkst. Ein Interview mit einer Expertin für die (platt-)deutsche Sprache.
Als ich meinen Job bei Galaxus antrat, war mir schnell klar: Die journalistische Welt hier ist eine andere. Nicht nur, dass sich das Unternehmen als Online-Shop den Luxus einer unabhängigen und breit aufgestellten Redaktion gönnt, auch sprachlich herrscht Vielfalt. Werfe ich in Videocalls oftmals ein knappes Hamburger «Moin» in die Runde, grüßt eine Kollegin aus Zürich mit einem «Hoi zäme».
Und noch während ich rätsele, was das wohl wortwörtlich bedeuten mag («Hallo zusammen»?), rattert bereits die nächste Frage durch mein neugieriges Gehirn: Wenn doch beide Sprachen Deutsch sind, warum sind sie so anders – oder sind sie das am Ende vielleicht gar nicht? Also frage ich jemanden, die es wissen muss. Nele Ohlsen ist Lehrerin für Deutsch und Niederdeutsch und hat für Galaxus linguistische Geschichtsbücher gewälzt.
Du kommst ja auch aus der Nähe von Hamburg. Verstehst du eigentlich Schweizerdeutsch?
Ja, nicht jedes Wort, aber im Allgemeinen schon. Aber nicht, weil ich für das Interview geübt habe, sondern weil ich Plattdeutsch kann.
Das musst du mir genauer erklären.
Schweizerdeutsch und Plattdeutsch – oder Plattdüütsch, as dat bi uns heet – haben denselben Ursprung: Beides sind germanische Sprachen. Das Plattdeutsche ist quasi das Ur-Deutsch hier bei uns im Norden. Es war im Mittelalter lange Zeit die vorherrschende Sprache. Im Laufe der Völkerwanderung wurde die Sprache auch immer weiter in Richtung Süden getragen, wo sie sich mit verschiedenen Dialekten mischte. Das Schweizerdeutsche ist daraus entstanden.
Sprachgeschichtliche Entwicklung
Wie kann ich mir das vorstellen?
Sprachen unterliegen einem ständigen Wandel. So gab es in der Entwicklung vom mittelalterlichen Deutsch hin zum heutigen Hochdeutsch mehrere Lautverschiebungen. Während dieser Entwicklung blieben jedoch Sprachvarianten bestehen, die diesen Wandel nicht mitgemacht haben. Daher existiert neben Hochdeutsch auch noch unser heutiges Plattdeutsch, das fast in seiner ursprünglichen Form geblieben ist. Das Schweizerdeutsch hat diese Lautwandel – vereinfacht gesagt – auch nicht alle mitgemacht. Es hat beispielsweise die sogenannte Diphthongierung der mittelhochdeutschen Monophthonge ausgelassen. Dadurch hat sich das Schweizerdeutsche weniger verändert und ist näher an der plattdeutschen Sprache geblieben.
Diphtho…
Diphthong ist der sprachwissenschaftliche Begriff für Umlaut, also «eu» «ei», «äu» und «au». Bei der Diphthongierung wird aus einem einfachen Vokal, einem Monophthong, eine Folge von zwei Vokalen. Das bedeutet, dass es die heutigen Umlaute, die wir im Hochdeutschen verwenden, im Plattdeutschen und Schweizerdeutschen kaum gibt. Stattdessen wird ein langer Einzelvokal verwendet, der – jetzt wird’s kompliziert – manchmal doppelt geschrieben wird, um seine Länge anzuzeigen.
Kannst du das anhand von Beispielen verdeutlichen?
Das hochdeutsche Wort «Haus» hat den Umlaut «au». Da es im Plattdeutschen und im Schweizerdeutschen aber so gut wie keine Umlaute gibt, heißt das Wort in beiden Sprachen «Huus». Ähnlich verhält es sich mit «Feuer». Anstelle des Diphthongs «eu» benutzt das Schweizer- sowie Plattdeutsche ein «üü». «Feuer» heißt hier in beiden Sprachen «Füür». Die Aussprache mag natürlich unterschiedlich sein, aber der Kern ist identisch.
Plattdeutsch als Brückensprache zu Schweizerdeutsch
Dann müsste ich meine Kollegen und Kolleginnen in der Schweiz ja besser verstehen, als ich bisher dachte. Hat das Plattdeutsche auch Ähnlichkeit mit anderen Sprachen?
Ja, mit allen nordseegermanischen Sprachen wie dem Niederländischen oder dem Englischen. «Katze» heißt auf Niederdeutsch «Katt», auf Niederländisch «kat» und im Englischen «cat». Und auch das Schweizerdeutsche hat Gemeinsamkeiten mit dem Englischen: Das Wort «gumpe» ist «to jump» sehr ähnlich. Plattdeutsch diente hier tatsächlich als Brückensprache, denn dort heißt es «jumpen».
Also ist Platt grundsätzlich hilfreich, wenn ich eine andere Sprache lernen will?
Auf jeden Fall. Ich habe es an mir selbst gesehen. Meine Großeltern sprachen fast ausschließlich Plattdeutsch untereinander, infolgedessen hatte ich es von Kindesbeinen an in den Ohren. Da fiel es mir leicht, in der Schule Englisch zu lernen. Einfach weil so viele Wörter fast gleich sind. Menschen mit schweizerdeutschem Sprach-Background könnte es ähnlich gehen.
Du arbeitest als Grundschullehrerin im sehr ländlichen Niedersachsen zwischen Hamburg und Bremen. Welche Rolle spielt Plattdeutsch im Unterricht?
An unserer Schule eine große – und ich bin froh darüber. Ich unterrichte Plattdeutsch jetzt seit mehr als 10 Jahren und kann ganz klar sagen: Es macht allen Kindern Spaß. Ich unterrichte an meiner Schule einmal wöchentlich Plattdeutsch und auch der Sportunterricht ist für alle Klassen auf Platt. Und ich reflektiere mit meinen Kindern über Sprache. So hat mich mal eine Schülerin gefragt, ob ich aus Plattdeutschland komme, und schon waren wir mittendrin in einem kindgerechten Gespräch über die Völkerwanderung.
Dennoch habe ich den Eindruck, dass in der Region um Hamburg immer weniger Platt gesprochen wird. Meine Kolleginnen und Kollegen aus Zürich hingegen plaudern untereinander fröhlich auf Schweizerdeutsch.
Das liegt daran, dass der Mehrwert des Plattdeutschen lange Zeit nicht erkannt wurde und wenig für den Erhalt der Sprache getan wurde. Anders als in der Schweiz wurde das Platt allmählich vom Hochdeutschen verdrängt. Plattdeutsch zu sprechen, war als «Bauernsprache» verpönt und wurde nicht mehr in die nächste Generation weitergegeben. Erst in den 1990er-Jahren hat Deutschland sich mit der Unterzeichnung der Europäischen Charta der Regional- und Minderheitensprachen dazu verpflichtet, die Niederdeutsche Sprache als Kulturgut zu schützen.
Vielleicht könntest du mal mit mir in Galaxus-Headquarter nach Zürich kommen und einen Sprach-Workshop halten. So im Sinne der Völkerverständigung…
Klar, warum nicht. Da ergeben sich bestimmt interessante Diskussionen. Und ich wette, wir finden mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede.
Eigentlich ein schöner Gedanke. Chef, was meinst du dazu?
Titelfoto: Pixabay/The GADmanAls Kind wurde ich mit Mario Kart auf dem SNES sozialisiert, bevor es mich nach dem Abitur in den Journalismus verschlug. Als Teamleiterin bei Galaxus bin ich für News verantwortlich. Trekkie und Ingenieurin.