Kritik

«Atomic Heart» angespielt: monumentales Game, mit monumentalem Holzkopf

An Ambitionen mangelt es «Atomic Heart» nicht. Das Alternativ-Universum um eine futuristische Sowjetunion strotzt vor Ideen beim Gameplay und beim Design. Schade nur, ist die Story völlig fadenscheinig und die Hauptfigur ein absoluter Trottel.

Sergey Nechaev ist ein sowjetischer Spezialagent und ein Kotzbrocken erster Güte. Dagegen wirkt Duke Nukem wie der grösste Charmebolzen. Das wär kein Problem, wäre Sergey nicht die Hauptfigur von «Atomic Heart» und müsste ich mir nicht konstant sein Gemotze anhören. Ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, jemals einen unsympathischeren Charakter gespielt zu haben. Zwar erfahre ich über das digitale Artbook im Hauptmenü etwas über die Hintergründe von Sergeys Charakter, erträglicher ist er mir nach zehn Stunden damit aber nicht geworden. Das ist schade, denn abgesehen davon bietet «Atomic Heart» sehr viel Sehenswertes.

Der Holzkopf und die lahme Story

Die Geschichte spielt in einem fiktiven Universum, in dem die Sowjetunion 1955 zu einer futuristischen Supermacht herangewachsen ist. Dank einer Technologie namens Polymer hat die UdSSR Hightech-Roboter mit künstlicher Intelligenz entwickelt, die miteinander vernetzt sind. Selbst Menschen können sich dank Polymer mit diesem neuronalen «Kollektiv 2.0»-Netzwerk verbinden. Was als Nächstes folgt, wissen auch alle, die «Terminator» nicht gesehen haben. Die Roboter wenden sich gegen ihre Erschaffer und stürzen das Testgebiet Facility 3826, wo Polymer getestet wird, in ein blutiges Chaos. Wer muss es richten? Korrekt, Supersoldat und Miesepeter vom Dienst: Sergey Nechaev.

Statt mit Sergey hätte ich lieber mit dieser kecken Russen-Oma gespielt.
Statt mit Sergey hätte ich lieber mit dieser kecken Russen-Oma gespielt.

Obwohl die Idee mit rebellierenden Robotern ein alter Hut ist, hätte das Retro-Zukunfts-Setting durchaus Potenzial. Es erinnert an eine sowjetische Version von «Fallout». Leider hat die Geschichte bisher kaum an Fahrt gewonnen und wirkt komplett vorhersehbar. Damit könnte ich leben, wäre Sergey nicht so ein Kotzbrocken. Von der ersten Minute an gibt er sich als eingebildeter, herablassender und linientreuer Stiefellecker. Und weil er jeden Gedanken unmittelbar mitteilen muss, komme ich mir wie ein schlecht bezahlter Therapeut eines kriegsgeilen Arschlochs vor. Sorry, aber sein Umgangston ist ansteckend.

Mittlerweile habe ich mich zwar etwas an die Wutausbrüche gewöhnt, unterhaltend oder gar amüsant sind sie jedoch nicht geworden. Die Sprachausgabe trägt sicherlich ihren Teil dazu bei. Ich habe primär auf Englisch gespielt. Deutsch ist unerträglich und klingt noch schlimmer. Am besten ist noch die russische Version. Aber Untertitel lesen beim Ballern ist etwas umständlich. Zum Glück ist die zweite prominente Stimme im Spiel deutlich zivilisierter. Die gehört Charles, einer künstlichen Intelligenz, die in Sergeys Polymer-Cyberhandschuh wohnt. Zu seinen Spezialfähigkeiten gehören minutenlange Erklärungen, damit die Geschichte vorangetrieben wird. Keine Angst, ab hier wird es besser.

Schöne neue Welt

«Atomic Heart» sieht aus wie ein wahr gewordener Traum eines Konzeptkünstlers aus den 50er-Jahren. Von den zahlreichen Robotern, die allesamt überraschend athletisch sind, bis zum Design der Hightech-Forschungsanlagen. Besonders die unterirdischen Labors sind voll mit geheimnisvollen Maschinen und Experimenten. Mal wandere ich durch eine Art Museum mit schwebenden, fluoreszierenden Roboterwalen, dann betrete ich eine Halle voll dröhnender, orange leuchtender Generatoren. Die von Studio Mundfish geschaffene Welt ist faszinierend. An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass mir leider schlicht die Zeit fehlt, um über die aktuelle Kontroverse zu Mundfish einzugehen. Das Studio hat mit Äusserungen zum Krieg zwischen Russland und der Ukraine sowie möglichem Datenaustausch mit russischen Behörden für negative Schlagzeilen gesorgt.

Das Design der Welt ist die grösste Stärke des Spiels.
Das Design der Welt ist die grösste Stärke des Spiels.

Aber kommen wir zurück zu «Atomic Heart». Sergey muss sich durch Horden durchgeknallter Roboter kämpfen, um die Saboteure hinter dem Chaos zu finden und um zu verhindern, dass das Ansehen der UdSSR beschmutzt wird. Pech für Sergey, sind die ganzen Haushalts- und Arbeitsroboter hervorragende Killermaschinen.

Action, die dich ins Schwitzen bringt

Der Kampf gegen das bunte Arsenal amoklaufender Roboter macht einen Grossteil des Spiels aus. Zum Glück versorgt mich «Atomic Heart» mit jeder Menge Mordinstrumenten. Indem ich Schränke, Kisten und erledigte Gegner durchsuche, sammle ich Ressourcen, um Waffen zu bauen oder zu verbessern. Zusammen mit dem Speichersystem, das nur an bestimmten Orten möglich ist, hat «Atomic Heart» Ansätze eines Survival-Spiels.

Neben Schusswaffen gibt es einen Cyberhandschuh, der Stromschläge verteilen kann.
Neben Schusswaffen gibt es einen Cyberhandschuh, der Stromschläge verteilen kann.

Von unterschiedlichen Spezialangriffen bis Kartuschen mit Elementar-Schaden gibt es eine Vielzahl an Kampfmöglichkeiten. Hinzu kommt der Cyberhandschuh, mit dem ich ähnlich wie in «Bioshock» Blitze abfeuern oder Roboter einfrieren kann. Die Waffen und der Handschuh sorgen für viel Abwechslung in den Kämpfen, von denen es nicht wenige gibt. Die fliegenden, springenden und rollenden Roboter bringen mich regelmässig ins Schwitzen. Besonders, weil nervige, fliegende Reparatur-Roboter die erledigten Gegner einfach wieder zusammenflicken. Die einzige Lösung, die ich bisher dagegen gefunden habe: Eine riesige Drohne namens Hawk aus einer Steuerungszentrale, die ich zuvor per gehackter Überwachungskamera geöffnet habe, überladen und notlanden lassen. Bis die Drohe repariert ist, bleiben sämtliche Maschinen im Umkreis deaktiviert. Das ist entspannend und unheimlich zugleich, weil die Welt dann erst richtig verlassen wirkt.

Weil Munition rar ist, kommen regelmässig Nahkampfwaffen zum Einsatz.
Weil Munition rar ist, kommen regelmässig Nahkampfwaffen zum Einsatz.

Die fehlgeleiteten Haushalts-Roboter sind aber nichts gegen die Bosse. Einer der ersten epischen Kämpfe ist gegen einen runden Stahlkoloss, der seine Arme wie Morgensterne durch die Luft schwingt, Feuerringe um sich schiesst oder wie eine Abrissbirne nach meinen Leben trachtet. Als wäre das nicht schon Action genug, wird der Kampf von fetzigem Metal-Sound aus der Feder von Mick Gordon («Doom») begleitet. Einfach grandios. Wenn ich nicht gerade Roboter zu Alteisen verarbeite, löse ich in «Atomic Heart» Rätsel.

Und täglich grüsst das Schalter-Rätsel

«Wieso sind hier so viele scheiss Schalter-Rätsel?» Das ist nicht etwa mein Frust, den ich hier ablade, sondern Sergeys. Praktisch jedes Mal, wenn eine Türe verschlossen ist oder ein Mechanismus mehrere Teile erfordert, um zu funktionieren, folgt eine Schimpftirade. Ich muss Sergey zwar recht geben, dass es in «Atomic Heart» definitiv viele Schalter- und Schlösserrätsel sowie Sammelaufgaben gibt. Aber wenn ich etwas mehr hasse als Spiele mit altbackenen Spielmechaniken, dann sind es Spiele, die sich über ihre eigene Ideenlosigkeit lustig machen. Im Falle von «Atomic Heart» muss ich allerdings sagen, dass die Rätsel wenigstens in Sachen Design originell sind. Da gibt es Türschlösser, die durch Akustik und das Schnippen der Finger im richtigen Moment geöffnet werden. Oder Räume mit riesigen Magneten, bei denen sich die Pole umkehren lassen, um zu traversieren. Hier kommt sogar ein bisschen «Portal»-Feeling auf.

Die Schalter-Rätsel sind wenigstens ein bisschen originell.
Die Schalter-Rätsel sind wenigstens ein bisschen originell.

Weitere kleinere Rätsel gibt es bei optionalen Testgeländen. Das sind separate Dungeons, ähnlich wie die Bunker in «Fallout». Dort finde ich neben wertvollen Ressourcen auch Baupläne für wichtige Waffenupgrades. Das Spiel verrät nur den ungefähren Ort, nicht aber, wie ich hineingelange. Mal lässt sich die Tür per Kamera hacken, ein andermal muss ich mit dem Scanner unterirdische Verbindungen verfolgen, um danach wiederum per Kamerahack Generatoren kurzzuschliessen. Weil die Oberwelt aber übersät ist von Robotern mit Reparatur-Service im Schlepptau, ist das ziemlich stressig.

Auch ausserhalb der Bunker wartet ein Roboter-Überwachungsstaat auf dich.
Auch ausserhalb der Bunker wartet ein Roboter-Überwachungsstaat auf dich.

Was soll ich davon halten?

Ein klares Urteil zu «Atomic Heart» fällt mir im Moment überraschend schwer. Ich bin im letzten Drittel des Spiels, vorausgesetzt, ich konzentriere mich weiterhin auf die Hauptstory. Die Welt und das Design von «Atomic Heart» sind grandios. Von den Robotern bis hin zu den geheimnisvollen Forschungsanlagen wird mir einiges geboten, das ich so noch nie gesehen habe. Am liebsten möchte ich alle Testgelände auskundschaften, um herauszufinden, was für verrückte Sachen sich diese Wissenschaftler sonst noch ausgedacht haben. Das Spiel bietet einiges zum Entdecken. Am Umfang gibt es nichts zu meckern.

Dem gegenüber steht eine bisher belanglose Story mit teilweise miserablen schauspielerischen Leistungen. Das gilt nicht unbedingt für den Hauptcharakter. Sergey soll wohl unsympathisch sein. Dass das überzeugend rüberkommt, kann als Erfolg gewertet werden. Spass ihm zuzuhören, macht das leider nicht. Trotzdem bin ich gespannt, wo mich das Spiel noch hinführt.

«Atomic Heart» ist erhältlich für PC, PS4, PS5, Xbox One, Xbox Series und wurde mir von Plaion zur Verfügung gestellt.

Focus Home Interactive Atomic Heart (PS5, DE)
Game

Focus Home Interactive Atomic Heart

PS5, DE

Focus Home Interactive Atomic Heart (PS4, DE)
Game

Focus Home Interactive Atomic Heart

PS4, DE

Focus Home Interactive Atomic Heart (Xbox Series X, DE)
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Focus Home Interactive Atomic Heart

Xbox Series X, DE

Focus Home Interactive Atomic Heart (PS5, DE)

Focus Home Interactive Atomic Heart

Focus Home Interactive Atomic Heart (PS4, DE)

Focus Home Interactive Atomic Heart

Focus Home Interactive Atomic Heart (Xbox Series X, DE)

Focus Home Interactive Atomic Heart

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Als Kind durfte ich keine Konsolen haben. Erst mit dem 486er-Familien-PC eröffnete sich mir die magische Welt der Games. Entsprechend stark überkompensiere ich heute. Nur der Mangel an Zeit und Geld hält mich davon ab, jedes Spiel auszuprobieren, das es gibt und mein Regal mit seltenen Retro-Konsolen zu schmücken. 

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