Marvel-Bashing: Ist Phase Vier wirklich so schlecht?
Das einst so gefeierte cineastische Marvel-Universum gerät seit «Endgame» mit fast jedem neuen Release in die Kritik – zu Recht. Aber war wirklich alles so schlecht? Lasst uns im Rückblick zu Phase Vier Advocatus Diaboli spielen.
Kritikerinnen und Kritiker können unerbittlich sein. Aktuell kriegt das Comic-Gigant und Filmstudio Marvel zu spüren. Sein filmisches Universum – das MCU – wurde einst mit jedem neuen Film gefeiert. Nicht nur von Fans. Auch von der Fachpresse. Und Marvels Erfolg spricht für sich: Bis 2019 spielten Marvels Superheldinnen und Superhelden mehr Geld an den Kinokassen ein als viele der grössten Film-Franchises zusammen. Doch mittlerweile lässt kaum wer noch ein gutes Haar an Marvel. Auch nicht ich.
Marvel sei seit dem Beginn von Phase Vier des MCUs in einer Sinnkrise, schrieb ich im Artikel oben. Mal zu kindlich. Mal zu politisch. Und trotz geradezu dramatisch hoher Kadenz an neuen Film- und Serien-Releases kommt die Multiversum-Hauptstory kaum voran. Stattdessen dümpelt das MCU konzeptlos durch die Kinolandschaft und provoziert die eigenen Fans. Kein Wunder hagelt es Kritik.
Erst kürzlich sah ich aber dieses Video von Youtuber Nando. Der Comic-Nerd widersetzt sich dem mittlerweile zur Norm gehörenden Marvel-Bashing und spricht lieber darüber, was ihm an der vierten Marvel-Phase gefällt. Und ganz ehrlich, warum auch nicht? Schliesslich hat er Recht – nicht alle Marvel-Releases seit 2021 waren schlecht oder zum Vergessen.
Ich will es ihm gleichtun. Zur Abwechslung.
WandaVision: Ein vielversprechender Start
Am Anfang war eine Serie. Natürlich nicht irgendeine, sondern die erste echte MCU-Serie: «WandaVision». Damals war sie ein grosses Ding. Netflix’ Marvel-Serie «Daredevil» etwa spielte zwar im MCU, hatte aber nie eine Auswirkung auf die Filme. Entsprechend brauchtest du sie auch nicht gesehen zu haben, um der MCU-Story folgen zu können. Das änderte sich mit «WandaVision». Zum ersten Mal produzierte Marvel Studios selbst. Zum ersten Mal spielten die Avengers die Hauptrollen in einer Serie. Und zum ersten Mal wurde die MCU-Story entsprechend in einer Serie weitererzählt.
Ich mag «WandaVision». Nicht nur wegen den unheimlich spassig zu produzierenden Folgenanalysen, in denen wir alle auf den grossen Auftritt des Bösewichts Mephisto gewartet haben – vergeblich. Die Serie fühlte sich auch frisch an und spielte mit einem mutigen Konzept: Jede Folge war eine Hommage an eine Sitcom aus einem anderen Jahrzehnt und mit den entsprechenden Stilmitteln inszeniert, sogar mit eingespielten Lachern. Warum? Anfangs machte die Serie ein Geheimnis daraus. Liess uns Fans die wildesten Theorien spinnen. Erst später wurde erklärt, dass es Wanda selbst ist, die sich mit ihrer Magie unbewusst eine «Traumwelt» vorgaukelt. So kann sie sich darin flüchten, um den traumatischen Verlust ihres Liebhabers Vision zu verarbeiten, nachdem sie ihn eigenhändig töten musste, um die Welt zu retten.
Wow.
Da war sie noch da, die Ernsthaftigkeit und Gravitas von Marvel-Geschichten und ihren Charakteren, die ich mit fortschreitender Phase Vier immer mehr vermisse. Nicht aber in «WandaVision». Hier gibt’s die bewegenden Momente noch, die mir beim Schauen die Kehle zuschnüren. «What is grief if not love persevering» etwa könnte eine der besten Zeilen sein, die je für ein Marvel-Drehbuch geschrieben worden sind.
Zugegeben, dem Ende gelingt die Punktlandung nicht ganz. Zu Marvel-typisch gehen die Emotionen in überbordenden CGI-Schlachten unter. Trotzdem denke ich immer noch gern an «WandaVision» zurück. Eine Fortsetzung wird’s aber leider nicht geben. Dafür soll ein Spin-Off Ende 2023 oder spätestens Anfang 2024 starten: «Agatha: Coven of Chaos». Schliesslich müssen wir ja erfahren, wie es mit der bösen Hexe weitergeht, die – Achtung, tief einatmen – Sparky getötet hat!
Falcon and the Winter Soldier: Der Super-Patriot dreht durch
Auch die nächste Marvel-MCU-Serie enttäuschte mich nicht und fügte sich würdig ins grosse Ganze ein: «The Falcon and the Winter Soldier». Die Welt hat nämlich mit Steve Rogers aka Captain America einen ihrer grössten Helden verloren. Der US-Soldat John Walker – kein genetisch manipulierter Supersoldat, aber das Beste, was das US-Militär zu bieten hat – soll seine Nachfolge antreten. Walker gibt sich alle Mühe, aber droht am Druck, Rogers immense Fussstapfen füllen zu müssen, zu zerbrechen. Der emotionale Höhepunkt der Serie: Walker, wie er einen Flüchtigen in aller Öffentlichkeit hinrichtet – mit Captain Americas blutverschmiertem Schild, das die Menschen eigentlich beschützen soll.
Ein Bild des Grauens.
Sam, der eigentliche Held, muss sich derweil mit Imperialismus, Rassismus und Polizeigewalt auseinandersetzen. Bucky hingegen versucht, seine Schuld beim Nachbarn zu sühnen; dessen Sohn wurde einst von Buckys bösem alten Ego, der unter der mentalen Kontrolle Hydras stand – dem Winter Soldier –, eiskalt ermordet. Indes stellt Baron Zemo die machiavellische Frage in den Raum, ob jeder noch so hehre Zweck tatsächlich die Mittel heiligt. Sicher, an Action und flotten Sprüchen mangelt es «The Falcon and the Winter Soldier» nicht; die versuchte seriöse Tonalität wird aber nicht ganz so stringent durchgezogen, wie’s die Themen nötig hätten. Und das Ende ist dann etwas gar pathetisch. Aber diese Abstriche fallen für mich nicht genug ins Gewicht, um den starken Eindruck des Rests zu trüben.
Loki: Ein Trickster kommt selten allein
Mit «Loki» gelang Marvel Studios seine bislang beste Serie. Mit dafür verantwortlich ist Tom Hiddlestons Bösewicht Loki. Der galt schon immer als Fan-Favorit. Und ihn in einer Buddy-Cop-Komödie mit einem Schnurrbart-tragenden Owen Wilson als Mobius zu stecken – ihre Chemie erinnert mich an «Lethal Weapon» –, war ein regelrechter Geniestreich. Zusammen reisen sie quer durch die Zeit, um Jagd auf jemanden zu machen, der das gesamte Raum-Zeit-Kontinuum ins Chaos stürzen will: Loki.
Wait, what?
«Loki» führt das Multiversum ein, in dem es unzählige alternative Zeitlinien gibt. Darin kommen alternative Versionen der bereits bekannten Figuren vor: sogenannte Varianten. Sylvie, eine weibliche Variante Lokis, hat es auf die Time Keepers abgesehen. Sie sorgen für den ordentlichen Fluss des einen wahren Zeitstrahls und hetzen TVA-Agenten wie Mobius auf Unruhe stiftende Varianten. Damals klang das nach einem spassigen Konzept à la «Everything, Everywhere, All at Once», das Abwechslung in die ausgelutschte Marvel-Formel bringen sollte. Du weisst schon: Jemand Böses hat einen bösen Plan, der von einem Avengers-Mitglied verhindert werden soll, und am Schluss kommt’s zur grossen CGI-Schlacht. Wirklich anders sind die nachfolgenden Marvel-Filme dann doch nie geworden. Aber ja. Andere Geschichte.
Was die Serie «Loki» für mich am positivsten von Marvels Phase-Vier-Projekten abhebt, ist ihr Finale: Statt zum besagten Endkampf mit zu vielen Computereffekten kommt es zu einem überraschend antiklimaktischen Kammerspiel mit «He Who Remains». Der Clou: Dessen Ausgang entpuppt sich fürs MCU als viel einschneidender, als es jede seelenlose CGI-Schlacht hätte sein können. Vor allem, weil es die nächste grosse Avengers-Bedrohung einführt: Kang the Conqueror.
Shang-Chi: Jackie Chan meets Marvel
Serien-technisch machte Marvel anfangs wenig falsch. «WandaVision» und «Falcon and The Winter Soldier» gaben Figuren, die in den Kinofilmen nur wenig Raum zur Entfaltung genossen, Tiefe und Charakter. Sie setzten sich mit den Nachwirkungen von «Endgame» auseinander und beschworen neue Konflikte – in «Loki» gar multiversale Konflikte. Auch im Kino gab’s einen Film, der mich auf Anhieb begeisterte: «Shang-Chi and the Legend of the Ten Rings».
Gerade anfangs brilliert «Shang-Chi» als gekonnter Genre-Mix zwischen Jackie Chans frühen «Police Story»-Filmen mit aberwitzigen Kung-Fu-Einlagen und chinesischen Martial-Arts-Fantasy-Filmen à la «Crouching Tiger, Hidden Dragon» oder «Hero». Denn wo der titelgebende Held Shang-Chi der junge, wilde Kämpfer à la Jackie Chan ist, ist in den Rückblenden meist sein Vater zu sehen, dessen Geschichte sich über 1000 Jahre erstreckt.
In seinen Kämpfen schwebt die Kamera oftmals durch wunderschön opulente, asiatische Sets der Feudalzeit. Darin Akteure, die an total offensichtlich wegretuschierten Kabeln durch die Szenen fliegen, Wände entlang laufen und im Zweikampf eine Art poetischen Tanz mit ihrem Gegenüber ausführen.
Herrlich.
Erst im letzten Drittel fällt «Shang-Chi» wieder etwas ab, wenn’s zur – you guess it – überbordenden CGI-Schlacht kommt, die mehr als nötig an «Dragon Ball» erinnert. Dabei mag ich «Dragon Ball». Ich liebe die Anime-Serie sogar. Aber wo «Shang-Chi» zuvor bodenständige und handgemachte Action servierte, wird’s im Finale so künstlich, dass ich fast meine, jemand hätte mittendrin den Film ausgetauscht. Schade. Aber der mehrheitlich starke Gesamteindruck bleibt.
Moon Knight: Der Verteidiger der Nachtwandelnden
Zum Schluss mein heimlicher Favorit in Phase Vier: «Moon Knight». Wieso? Weil sich die Serie nur selten an die Marvel-Formel hält. Angetrieben wird sie von einem genialen erzählerischen Kniff: Stell dir vor, du bist ein ganz normaler Mensch, mit einem ganz normalen Leben, bis du eines Tages herausfindest, dass du noch eine zweite, dir selber gänzlich unbekannte Persönlichkeit hast – und die ist ein Superheld.
Im Mittelpunkt steht Steven Grant. Schlafstörungen plagen ihn jede Nacht. Am Arbeitsplatz in London wird er gemobbt. Niemand nimmt ihn ernst. Und ständig wird er auf Dinge angesprochen, von denen er keinen blassen Schimmer hat. Als ob sie jemand anderes erlebt hätte… Bis er eines Tages mit einem ausgerenkten Kiefer und blutigen Händen aufwacht – auf irgendeinem Feld in irgendeinem ihm wildfremden Land.
«Was zum Teufel geht hier ab», dachte ich mir beim ersten Gucken. Denn das Tolle an «Moon Knight» ist, dass die Geschichte anfangs nur aus Sicht von Steven Grant erzählt wird. Das macht seine Informationslücken zu meinen. Seine Verwirrung wird greifbar. Seine Überforderung spürbar. In einem Moment wird er von bösen Männern gepackt, im nächsten liegen sie tot um ihn herum. Dann sitzt er plötzlich in einem Auto, auf der Flucht, schreiend und auf einer Serpentinenstrasse in den österreichischen Alpen rasend – und plötzlich liegt er wieder im eigenen Bett in London. Wohl doch nur alles ein böser Traum. Oder nicht?
Es ist genau diese Sorte von intellektueller Herausforderung, weil die Geschichte nicht linear erzählt wird, die sich Marvel viel öfter zutrauen sollte. Erst im Laufe der Handlung werden die Lücken geschlossen, natürlich mit einem dramatischen Twist und der Erkenntnis, dass Steven Grant weitaus kaputter ist, als er zunächst dachte. Mir ging das nah. Alleine schon deswegen finde ich «Moon Knight» gelungen. Denn seit die alte Garde mit «Endgame» aus dem filmischen Marvel-Universum getreten ist, kann ich mich mit all den neuen Charakteren kaum noch identifizieren. Steven Grant ist eine der wenigen Ausnahmen.
Dazu gelingt der Serie eine beinahe perfekte Verschmelzung grundverschiedener Genres. Da ist zum Beispiel viel «Fight Club», mit all seiner Härte und Düsternis, getragen vom psychisch kranken Protagonisten. Hinzu kommt ein leichter Fantasy-Einschlag, inspiriert von ganz viel ägyptischer Mythologie und einer dicken Portion Action-Adventure-Horror à la 1999er «The Mummy». Was auf dem Papier wie ein Albtraum in puncto stringenter Tonalität klingt, funktioniert in Wahrheit entgegen jeder Logik. Einziger Kritikpunkt: die meistens recht dürftigen Computereffekte.
Marvel kann es ja – sie haben’s nur vergessen
Auch wenn ich in diesem Artikel gehörig gegen Marvels Phase Vier gewettert habe: Nein, nicht alles an ihr war schlecht. Und selbst die «schlechten» Sachen wären eigentlich ganz ordentliches Mittelmass, wenn wir sie in über zehn Jahren Superhelden-Boom nicht schon zigmal gesehen hätten. Auch das trägt dazu bei, dass sich Marvel Neues einfallen lassen muss, um nicht mehr so abgedroschen und ausgelutscht zu wirken,wie zuletzt.
Vielleicht deswegen gefielen mir jene Releases am besten, die sich trauten, von Marvels eigener Erfolgsformel abzuweichen. «Loki» oder «Moon Knight» zum Beispiel. Gleichzeitig scheint mir, dass Marvel dort, wo man sich nicht auf die blosse Formel verlassen kann, entsprechend mehr Wert auf tiefe Charakterentwicklungen und durchdachte Handlungen gab. Schliesslich war das immer schon die grösste Stärke Marvels: Fesselnde Geschichten über spannende Figuren zu erzählen, die nur «zufällig» Superheldinnen und Superhelden sind – nicht umgekehrt.
Ich hoffe, dass sich Marvel dessen bald wieder bewusst wird.
Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.»