Unsichtbare Werbung: Die Story einer seltsamen Story
Dies ist eine merkwürdige Geschichte. Sie beginnt mit einer technischen Frage zu Einzelframes im Kino und endet mit Betrug, Verschwörungstheorien und Ängsten der modernen Gesellschaft. Und Popcorn.
«Eine Zeitlang wurden in den USA im Kino Einzelbilder von Popcorn in den Filmstreifen geschnitten. Diese Bilder waren so kurz zu sehen, dass sie niemand bewusst wahrnahm. In der Pause hatten die Kinobesucher dann plötzlich Lust auf Popcorn, ohne zu wissen, warum. Denn die einzelnen Popcorn-Frames, nur ein Bruchteil einer Sekunde lang im Bild, wirkten unbewusst. So steigerten sie den Popcorn-Verkauf.»
Das hörte ich als Kind von meinem Vater. Nicht genau in diesem Wortlaut, aber so ungefähr. Die gleiche Idee findet sich im Film Fight Club: Der von Brad Pitt gespielte Tyler Durden schneidet bei seinem Job, dem Wechsel der Filmrollen im Kino, heimlich einen Penis rein und löst damit unerklärliche Irritationen im Publikum aus.
Die Popcorn-Anekdote kam mir in den Sinn, als ich neulich einen Artikel über Bildfrequenzen schrieb. Kinofilme haben eine Frequenz von 24 Bildern pro Sekunde. Damit sind zwar flüssige Bewegungsabläufe darstellbar, aber den Unterschied zu 50 oder 60 Bildern pro Sekunde siehst du in gewissen Szenen durchaus. Das haben einige in den Kommentaren des Beitrags auch geschrieben.
Wenn der Mensch den Unterschied zwischen 24 und 50 Bildern sieht, bedeutet das, dass er mehr als 24 Bilder pro Sekunde wahrnehmen kann. Kann die Geschichte mit der unterschwelligen Werbung überhaupt stimmen?
Einfach mal selber testen
Heutzutage lässt sich das ja sehr einfach nachprüfen. Ich nehme eine kurze Videosequenz, die ich diesen Winter mit einer Drohne aufgenommen habe, und ersetze nach jeder Sekunde ein Einzelbild des Videos durch ein Foto mit Popcorn.
Das Ergebnis ist eindeutig. Bestimmt siehst auch du, dass da etwas reingeschnitten wurde. Du erkennst wahrscheinlich sogar, was es ist. Da ist nichts unbewusst oder unterschwellig, eine solche Manipulation würde den Kinobesuchern sofort auffallen. Und das Popcorn-Foto in meinem Video wird sogar noch kürzer gezeigt, als es im Kino der Fall wäre, nämlich 1/30 Sekunde statt 1/24 Sekunde. Dies, weil das Video mit 30 Bildern pro Sekunde aufgenommen wurde.
Der Ursprung der Geschichte
Woher kommt denn die Geschichte, die mein Vater erzählte? Handelt es sich um eine Urban Legend, ein modernes Märchen? Nach einigen Web-Suchanfragen werde ich fündig. Die Story dahinter reicht in die Fünfzigerjahre zurück und ist so unterhaltsam, dass ich sagen würde: Hol dir mal Popcorn.
Am 12. September 1957 berichten verschiedene Zeitungen von einer Studie, wonach unbewusst wahrgenommene Einblendungen in Kinofilmen den Konsum steigern. Während sechs Wochen seien 45 000 Kinobesucher mit ultrakurzen Botschaften wie «Hungry? Eat Popcorn» beeinflusst worden. Der Popcorn-Konsum sei dabei um 57 Prozent gestiegen.
Die konkrete Umsetzung unterscheidet sich von meinem Testfilmchen. Die unterschwellige Botschaft wird nur jede fünfte Sekunde eingeblendet. Und vor allem besteht sie nicht aus einem Bild, sondern aus einem Schriftzug, der über das Bild gelegt wird. Das ist weniger auffällig als ein komplett anderes Einzelbild, aber immer noch deutlich wahrnehmbar. Hier wieder meine Probe aufs Exempel:
Auch das ist recht gut sichtbar. Ob du es tatsächlich siehst, hängt sehr stark davon ab, ob du darauf achtest. Der Film Fight Club handelt nicht bloss von der Technik, er wendet sie auch selbst an. Tyler Durden taucht mehrmals für einen einzigen Frame im Film auf. Ich muss gestehen, dass mir das im Kino nicht aufgefallen ist. Aber wenn man abgelenkt ist, fallen einem die offensichtlichsten Dinge nicht auf. Ich habe schon Leute gesehen, die sich gefragt haben, wo ihr Handy ist, während sie es in der Hand hielten.
Es gibt noch einen Unterschied: Im Popcorn-Experiment sollen die Einblendungen nur 1/3000 Sekunde lang gewesen sein. Das ist eindeutig nicht bewusst wahrnehmbar. So kurze Einblendungen kann ich nicht selbst herstellen und auch im Kino sind sie mit einem Filmprojektor nicht möglich. Es braucht ein zweites Gerät für Ultrakurzeinblendungen – ein sogenanntes Tachistoskop. Dieses Gerät kann ähnlich wie ein Fotoblitz den Schriftzug für einige Millisekunden zum Leuchten bringen. Technisch ist es also möglich, Botschaften einzublenden, die unter der Wahrnehmungsschwelle liegen.
Den Nerv der Zeit getroffen
Die Studie erregte grosses Aufsehen, die Empörung war gross. Kein Wunder: Wer wird schon gerne manipuliert? Sehr schnell kommt der Gedanke, dass sich das auch für weniger harmlose Dinge einsetzen lässt als für den Verkauf von Popcorn. Ebenfalls 1957 erschien das Buch The Hidden Persuaders von Vance Packard. Darin stellt der Autor die unterschwellige Beeinflussung in einen grösseren Zusammenhang. Das Buch handelt einerseits von den psychologisch immer perfideren Methoden, die in der Werbung eingesetzt werden, andererseits auch davon, wie diese Methoden für politische Zwecke verwendet werden.
Damit traf Packard einen Nerv der Zeit. Der Kalte Krieg lief auf Hochtouren und mit ihm die Propagandamaschinerie – nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch in den USA. Vor allem in der ersten Hälfte der Fünfzigerjahre, in der sogenannten McCarty-Ära, wurde alles verfolgt, was auch nur im Entferntesten nach Kommunismus roch. Schriftsteller, Hollywood-Regisseure und Drehbuchautoren mussten zu Gesinnungs-Verhören antraben und wurden eingelocht, wenn sie sich weigerten. Zugleich befand sich die USA in den Anfängen eines riesigen Konsumrausches, durch den auch das Werbegeschäft zu einer Goldgrube wurde.
Gleichzeitig geisterten in den Fünfzigerjahren immer noch die alten Ideen herum, wonach sich Menschen bis zum Punkt der totalen Gehirnwäsche konditionieren lassen. Das berühmteste Beispiel ist der Roman «Brave New World» von Aldous Huxley aus dem Jahr 1932. Die Gesellschaft in dieser Dystopie besteht aus einem Kastensystem, in dem alle brav die ihnen zugewiesene Rolle ausführen und gar nichts anderes wollen. Dies, weil sie als Kleinkinder in einer «Schlafschule» entsprechend konditioniert werden. Ein sehr wichtiges Element dabei spielt das unkritische Konsumieren.
Aber auch spätere Werke wie «Clockwork Orange» von Anthony Burgess nehmen diese Idee auf. Dort funktioniert die Konditionierung jedoch nicht so perfekt wie in Brave New World. Das Buch stammt aus dem Jahr 1962, die Verfilmung von Stanley Kubrik von 1971. In dieser Zeit glaubten bereits nicht mehr so viele daran, dass sich Menschen gezielt «umprogrammieren» lassen.
Die Studie über Manipulation ist manipuliert
Die Studie fiel in eine Zeit, in der die Bevölkerung ahnte, dass sie durch Werbung und Propaganda manipuliert wird, aber kaum handfeste Anhaltspunkte dafür hatte. James Vicary lieferte mit seiner Studie ein sehr konkretes und einleuchtendes Beispiel. Dies verhalf ihr zu grosser Beachtung. Allerdings hatte das Experiment einen kleinen Schönheitsfehler: Es war komplett frei erfunden.
Vicary war in erster Linie Werbefachmann, nicht Wissenschaftler. In ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, interessierte ihn an der Wahrnehmungsforschung vor allem, wie sie zu Geld gemacht werden konnte. Ihm war schon sehr früh klar, dass die sublime Beeinflussung von Meinungen und Wünschen eine enorme Macht bedeutete. Allerdings war Vicary nicht in der Position, um die Methoden unterschwelliger Beeinflussung selbst anzuwenden. Also verkaufte er die Idee dahinter. Er trat als Experte auf und beriet Unternehmen.
Packard erwähnt in seinem Buch diverse Forschungsarbeiten von James Vicary – allerdings nicht das Kino-Experiment. Dieses hat sich Vicary aus den Fingern gesogen, kurz nachdem das Buch erschienen war.
In der Wissenschaft wurden seine Behauptungen angezweifelt, denn kein Psychologe konnte die Ergebnisse seiner Studie jemals reproduzieren. In einem TV-Interview erklärte Vicary 1962 dann, das Experiment sei ein Trick gewesen, um den Umsatz seiner eigenen Marketingfirma anzukurbeln. Was auch gut funktioniert habe.
Mit anderen Worten: Die Studie, die aufzeigt, wie Menschen manipuliert werden, um ihnen etwas zu verkaufen, wurde selbst manipuliert, um Menschen etwas zu verkaufen.
Warum sich die Geschichte hartnäckig hält
Eine Frage bleibt noch. Mein Vater erzählte die Popcorn-Anekdote in den Achtzigerjahren. Warum konnte sich die Geschichte mindestens 25 Jahre halten, obwohl sie schon nach kurzer Zeit als Lüge enttarnt wurde?
Immer, wenn Medien eine Falschmeldung verbreiten, die Aufsehen erregt, erreichen sie damit mehr Leute als mit der späteren Berichtigung. Das ist normal. Darum ist es so wichtig, dass ein Journalist oder eine Journalistin keine Vorverurteilung macht, etwa in einem laufenden Gerichtsverfahren.
In diesem Fall kommen noch weitere Faktoren hinzu. Auch wenn das Experiment so nicht stattgefunden hatte, behandelte es ein damals wie heute sehr relevantes Thema. Unterschwellige Beeinflussung in der Werbung ist eine Riesensache und existiert auch im Kinofilm. Stichwort Schleichwerbung, Product Placement. Natürlich war die Wirkung solcher Methoden 1957 wesentlich grösser als heute, weil sie neu waren.
Die Story ist zudem die perfekte Projektionsfläche für diffuse Ängste, die in einer technisierten Welt entstehen. Bei solchen Themen sind der Fantasie kaum Grenzen gesetzt, wovon Verschwörungstheorien zur Gedankenkontrolle zeugen. Etwa dass dem Trinkwasser Fluor beigemischt wird, um die Menschen willensschwach zu machen. Oder dass die Regierung mit einem Kurzwellensender Gedanken steuern kann. Was die Ängste verschlimmert, ist die Tatsache, dass sich manches, was sich wie eine absurde Verschwörungstheorie anhört, als wahr erwiesen hat. Beispielsweise hat die CIA tatsächlich Tausenden von ahnunglosen Menschen LSD verabreicht, um zu testen, ob damit Gedankenkontrolle möglich ist. Das «Forschungsprojekt» nannte sich MK Ultra.
Die Story mit der unsichtbaren Popcorn-Werbung hört sich dagegen vergleichsweise realistisch an.
So. Nun habe auch ich Lust auf eine Tüte Popcorn.
Titelbild: shutterstock.comDurch Interesse an IT und Schreiben bin ich schon früh (2000) im Tech-Journalismus gelandet. Mich interessiert, wie man Technik benutzen kann, ohne selbst benutzt zu werden. Meine Freizeit ver(sch)wende ich am liebsten fürs Musikmachen, wo ich mässiges Talent mit übermässiger Begeisterung kompensiere.