Des Mobiltelefons letzte Reise (Teil 3): Von Europa auf die Mülldeponien Westafrikas
In der Schweiz und der EU ist das Recycling von Altgeräten streng reguliert, doch in vielen Ländern gefährden alte Geräte noch immer die Umwelt und die Gesundheit der Menschen. Es dauert lange, ein funktionierendes Recyclingsystem aufzubauen.
«Bei manchen Teilen sieht man noch gut, was es einmal war», sagt Markus Stengele, Umwelttechniker und Leiter Qualität und Umwelt der Solenthaler Recycling AG (Sorec). Er lässt seinen Blick über den Metallhaufen vor uns schweifen, um dann einzelne Stücke herauszugreifen und zu benennen: den Kühler eines Prozessors, die Blende eines Computers, die Umlenkrolle eines Druckers, Teile von Festplatten, der untere Teil eines Bügeleisens. Mehr als mannshoch aufgetürmte, unterschiedlich grosse Aluminiumstücke, die alle einmal Teil von Elektro- oder Elektronikaltgeräten waren. Neben dem Aluminium türmen sich Eisen und weitere Metalle. Auf der gegenüberliegenden Seite der offenen, mit Lastwagen befahrbaren Halle sind unterschiedliche Qualitäten Leiterplatten, Kunststoffe und Kunststoff-Metall-Gemische angehäuft. «Für das kriegen wir Geld, für das hier bezahlen wir Geld», kommentiert Stengele im Vorbeigehen. «Je nachdem, wie viel rezyklierbarer Kunststoff drin steckt.»
Haben die Materialhaufen ein gewisses Volumen erreicht, werden sie mit der Schaufel oder einem Greifarm auf Lastwagen verladen, damit sie beispielsweise zur Metallschmelze in Belgien, Deutschland und Italien oder zur Kunststoffaufbereitung in Österreich gelangen und so zumindest teilweise wieder in den Rohstoffhandel einfliessen können. All die Materialien stammen aus Elektro- und Elektronikaltgeräten, die in der Mühle der Sorec zerkleinert und deren Bestandteile dann auf Förderbändern durch unterschiedliche Sortiermechanismen transportiert worden sind – beispielsweise einen Windkanal, der leichte Teile von schweren trennt, Magnete für die Entnahme von Eisen aus dem Stoffgemisch, Siebanlagen und diverse Sensoren, die unterschiedliche Materialien erkennen. «Da steckt sehr viel High-Tech drin», sagt Stengele, als er mir das Herzstück der Sorec zeigt und erklärt. Er muss sehr laut sprechen, um das Brummen, Zischen und Scheppern der Mahl- und Sortiervorgänge zu übertönen.
In Ghana landen Altgeräte auf grossen Deponien
Solche High-Tech-Recyclinganlagen wie in der Schweiz gibt es in vielen Teilen der Welt nicht. «In den meisten Ländern erfolgt das Recycling von Altgeräten noch vorwiegend im informellen Sektor», sagt Heinz Böni, der bei der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (Empa) die Forschungsgruppe Kritische Materialien und Ressourceneffizienz leitet. «Oftmals gibt es gröbere Probleme, weil problematische Stoffe in die Umwelt gelangen können und die Leute, die Wertstoffe aus Altgeräten rausholen, sich nicht ausreichend schützen und damit ihre Gesundheit gefährden.» Etwa in Ghana, wo Altgeräte noch immer zum grossen Teil auf Deponien landen, wo Leute nachts unter freiem Himmel Kabel verbrennen, um das Kupfer zu gewinnen, wodurch Dioxine und weitere Gifte entstehen. Oder in Indien und Pakistan, wo Leute versuchen, das Gold aus Leiterplatten mit starken Säuren zurückzugewinnen.
Laut «The Global E-Waste-Monitor 2020», den die Universität der Vereinten Nationen und weitere Institutionen im Juli 2020 publiziert haben, verfügten bis Oktober 2019 mit 78 Ländern nicht einmal die Hälfte der Staaten weltweit über eine Gesetzgebung oder über Vorschriften zur Regelung des Umgangs mit Elektroaltgeräten. Das waren zwar bereits 11 Länder mehr als noch zwei Jahre zuvor. Doch nicht überall besteht eine rechtsverbindliche Gesetzgebung. Und selbst dort, wo es diese gibt, reicht eine Gesetzgebung allein nicht aus für ein funktionierendes Recyclingsystem. Selbst in Europa, wo gute Sammelsysteme und Infrastrukturen für fachgerechtes Recycling existieren, bleibt noch viel zu tun: Laut dem Bericht zeigen Statistiken, dass nur 59 Prozent der in Nordeuropa anfallenden Elektro- und Elektronikaltgeräte und 54 Prozent der in Westeuropa anfallenden Altgeräte als formell recycelt dokumentiert sind, und dass noch immer bedeutende Teile entweder im gemischten Restmüll entsorgt werden, nicht gesetzeskonform recycelt werden oder aber zur Wiederverwendung exportiert werden. Bei diesen Exporten handelt es sich um Elektro- und Elektronikgeräte aller Art, insbesondere um Computer und Laptops von spezialisierten Aufarbeitungsfirmen sowie um gebrauchte Kühlschränke, Mikrowellengeräte und andere langlebige Güter, die in gebrauchten Fahrzeugen oder Containern verstaut und nach Afrika verschifft werden.
Auf dunklen Kanälen bis nach Afrika
Auch sonst zeigen Berichte immer wieder auf, dass ein Teil der Altgeräte aus Europa und den USA am Ende auf Mülldeponien in Ländern Afrikas oder Asiens landen, wo es oftmals kein fachgerechtes, formelles Recycling gibt. So schätzte etwa eine im Rahmen des EU-Projektes Countering WEEE Illegal Trade (CWIT) durchgeführte Untersuchung, an der auch die Interpol beteiligt war, dass im Jahr 2012 insgesamt 1,5 Millionen Tonnen Altgeräte aus Europa exportiert wurden. Ein Teil der Geräte war noch funktionstüchtig und für den weiteren Gebrauch geeignet, aber darunter waren eben auch geschätzte 750'000 Tonnen defekte Geräte, deren Export laut Basler Konvention verboten ist. Oder 2019 publizierte das Basel Action Network den Bericht «Holes in the Circular Economy: WEEE Leakage from Europe», für den Aktivistinnen und Aktivisten in zehn EU-Ländern 314 defekte LCD- und Röhrenmonitore, PCs und Drucker mit GPS-Peilsendern ausgestattet und verfolgt hatten. 19 davon wurden exportiert, 11 konnte das Netzwerk bis nach Afrika oder Asien verfolgen.
Gefragt, ob auch Geräte aus der Schweiz auf Deponien in Afrika und Asien landen, sagt Heinz Böni von der Empa: «Wenn Altgeräte hier in der Schweiz im Recycling landen, ist das weitestgehend wasserdicht. Aber natürlich ist es nicht ausgeschlossen, dass Altgeräte aus der Schweiz im Ausland landen.» Denn was mit Geräten geschehe, die nicht fürs Recycling abgegeben werden, lasse sich nicht kontrollieren. «Ich bin überzeugt, dass in der Schweiz das Klischee nicht stimmt, dass all unsere kaputten Geräte nach Ghana kommen», sagt Flora Conte, Umweltnaturwissenschaftlerin und Projektleiterin im Bereich Umweltberatung bei der Carbotech AG, die im Auftrag der Rücknahmesysteme SENS und Swico regelmässig Audits von Zerlegebetrieben und Recyclern durchführt. «Es ist eher so, dass man sagt: Ich möchte etwas Gutes tun, ich schenke meinen gebrauchten Computer einer Schule in Afrika, und der Computer ist vielleicht schon sechs Jahre alt. Das ist gut gemeint, aber oftmals problematisch. Niemand überlegt sich, was dann dort mit dem PC geschieht, wenn er in zwei Jahren kaputt geht.»
Zumindest eine Idee dessen, was in Afrika mit Altgeräten geschieht, vermittelt der vierteilige Dokumentarfilm Chinafrika.mobile des deutschen Filmemachers Daniel Kötter, der sich mit Rohstoffabbau, Produktion, Reuse und Recycling beschäftigte. Ausschnitte davon sind auf der Website zur «Smartphone Objektbiografie» aufgeschaltet, die im Rahmen des vom Nationalfonds unterstützten Forschungsprojekt «Times of Waste» erstellt wurde.
Im Dokumentarfilm – hier ein Ausschnitt – führt Kötter sein Publikum etwa auf den Owode Onirin Market in Lagos, Nigeria. Dort kippt ein junger Mann einen gelben Plastiksack voller Mobiltelefone auf den lehmigen Boden, setzt sich auf ein Gerät, das eine flache Stereoanlage sein könnte, und macht sich an die Arbeit: Ein Mobiltelefon nach dem anderen nimmt er, hält es mit einer Kante auf einen Stein, der vor ihm auf dem Boden liegt, und schlägt dann mit der Rückseite eines grossen Schraubenziehers auf das Gerät, bis sich dessen unterschiedlichen Schichten voneinander lösen und er die Leiterplatte herausreissen kann. Nur diese landet wieder im Plastiksack, während zerbrochene Displays und Gehäuse zumindest für den Moment auf dem Boden liegenbleiben.
«Es wird immer Schrott geben.»
Auf demselben Markt bearbeiten junge Männer Kabel mit dem Hammer, um den Kunststoff vom Kupfer zu lösen, andere entfernen mit Hilfe von Beisszangen wertvolle Komponenten von grossen Leiterplatten. Die meisten haben nur Flipflops oder Sandalen an den Füssen, manche tragen Handschuhe, aber bei vielen ist keinerlei Schutzausrüstung erkennbar. Aus dem Off erklärt der nigerianische Computerexperte Anthony Bankole, genannt «Tony Schrott», dass viele grosse Firmen aus China und Grossbritannien Leute wie ihn beauftragen würden, Elektroschrott zu sammeln, und erklärt sich das mit der schwachen Wirtschaft in seinem Heimatland und in ganz Westafrika. «Die glauben, hier bekommen sie es billiger und mit weniger Regeln als zum Beispiel in Grossbritannien», sagt Anthony. Der Grossteil des Materials gehe zurück nach China. Er ist seit mehr als zehn Jahren im Schrotthandel tätig und sieht es als Business mit Zukunft, weil ständig neue Sachen hergestellt werden, die irgendwann alt werden und kaputtgehen: «Es wird immer Schrott geben.»
Damit hat er sicher recht. Laut dem «The Global E-Waste-Monitor 2020» fielen 2019 weltweit 53,6 Millionen Tonnen ausgedienter Elektro- und Elektronikgeräte an, von denen nicht einmal ein Fünftel nachgewiesenermassen rezykliert wurde. Und wenn die Entwicklung weitergeht wie bisher, werden es im Jahr 2030 bereits 74 Millionen Tonnen sein. Altgeräte, in denen neben Wertstoffen auch zahlreiche Schadstoffe wie Blei, Quecksilber, Cadmium, Chrom oder PCB stecken, die schwerwiegende Auswirkungen auf fast jedes Organsystem haben können. So enthalten sie beispielsweise jährlich 50 Tonnen Quecksilber und 71'000 Tonnen Kunststoffe mit bromierten Flammschutzmitteln, von denen nicht dokumentiert ist, was mit ihnen passiert, und die sicher teilweise in der Umwelt freigesetzt werden.
Überleben ist oft wichtiger als die Gesundheit
Laut dem Bericht fehlen zwar noch entsprechende Langzeitstudien an grösseren Bevölkerungsgruppen, doch Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass informelles E-Waste-Recycling sich negativ auf die Gesundheit der Beschäftigten auswirken kann, dass etwa Haut, Atemwege, Herz-Kreislauf- und Immunsystem Schaden nehmen können, und dass die Stoffe in Altgeräten insbesondere für Kinder gefährlich sind, die noch wachsen und sich entwickeln.
«Die Leute, die in Entwicklungsländern Altgeräte auseinandernehmen, wissen oft schon, dass das für ihre Gesundheit nicht gut ist», sagt Umweltingenieurin Esther Thiébaud vom Umweltberatungsbüro Sofies. «Aber es ist dort eine Frage des Überlebens, es zählt vor allem, dass man ein paar Franken verdient, um am Abend etwas zu Essen zu kaufen.» Thiébaud beschäftigt sich seit rund zwölf Jahren mit Fragen rund um Elektroaltgeräte und war über die Jahre auch immer wieder an Projekten in Entwicklungsländern beteiligt, bei denen es darum ging, zusammen mit Partnern vor Ort Policies oder Managementsysteme für den Umgang mit Altgeräten zu entwickeln. So war sie etwa vor zehn Jahren mehrmals in Ghana für ein Assessment, aktuell ist sie beteiligt an einem Projekt in Ägypten. Dort gebe es zwar einige formelle Recycler, jedoch noch kein funktionierendes Recyclingsystem. Oftmals sei es heute so, dass Firmen ihre Altgeräte auf Auktionen an den Meistbietenden verkaufen. «Leider ist das meist nicht der, der sich wahnsinnig um die Umwelt oder die Gesundheit seiner Arbeitenden schert. Es sind Marktmechanismen entstanden, die nicht helfen, dass man Altgeräte nachhaltig und ökologisch rezykliert. Das in den Griff zu bekommen ist ein sehr langwieriger Prozess.»
Bevor man ein funktionierendes Recyclingsystem aufbauen könne, müsse man das System und die relevanten Akteure ganz genau kennen, denn das sei in jedem Land etwas anders: «Manche haben Riesenschrottplätze, wo alles zentral verarbeitet wird. Andere haben riesige Secondhandmärkte, und auseinandergenommen werden die Geräte in kleinen Hinterhöfen.»
In den letzten 15 Jahren habe sich sehr vieles getan, in vielen Ländern gäbe es unterdessen Importbeschränkungen und schärfere Kontrollen. «Aber diese Länder produzieren auch selbst viel Elektroschrott. Selbst wenn wir alle Exporte einstellen könnten, müssen die einzelnen Länder funktionierende Systeme aufbauen für eine umweltgerechte und sozialgerechte Verarbeitung von Elektroaltgeräten.»
Südamerika adapiert die vorgezogene Recyclinggebühr der Schweiz
Um hier einen Beitrag zu leisten und das Know-How der Schweiz einzubringen, führen das Staatssekretariat für Wirtschaft und die Empa bereits seit 2003 entsprechende Projekte in verschiedenen Ländern Südamerikas, Afrikas und Asiens durch, zuerst im Rahmen des «Swiss e-waste Programme», seit 2013 im Rahmen des Nachfolgeprogramms «Sustainable Recycling Industries». Laut Heinz Böni von der Empa, der von Anfang an beteiligt war, sei beispielsweise in Kolumbien und Peru unterdessen die erweiterte Produktverantwortung umgesetzt, indem die ungedeckten Kosten des Recyclings über einen vorgezogenen Recyclingbeitrag auf den Produkten nach Schweizer Modell finanziert werden. Auch in anderen Ländern sei eine solche angedacht. Denn fachgerechtes Recycling von Elektroaltgeräten lasse sich wegen des grossen Aufwands und wegen der vielen Schadstoffe nie allein über den Materialwert der Wertstoffe finanzieren. Er betont aber auch, dass man nicht einfach das Schweizer Modell eins zu eins in ein anderes Land übertragen könne. «In vielen Ländern ist der informelle Sektor nach wie vor sehr stark, da ist es sehr wichtig, dass mit den relevanten Akteuren zusammengearbeitet wird».
Eine Möglichkeit etwa sei, dass man den informellen Recyclern insbesondere kritische Geräte zu einem besseren Preis abkaufe, als sie auf dem freien Markt erzielen würden, und sie dann fachgerecht entsorgt. Oder dass man informellen Recyclern einen Co-Working-Space zur Verfügung stelle, wo sie die gesammelten Geräte mit den nötigen Werkzeugen und unter Einhaltung gewisser Schutzvorrichtungen auseinandernehmen können. Wo sie beispielsweise einen Kabelschredder nutzen können, damit sie die das Kupfer entnehmen können, ohne den Kunststoff zu verbrennen. «Wir haben schon sehr viel erreicht. Aber das sind lange Prozesse. Es geht Jahre, bis etwas etabliert ist und man sagen kann, wir haben es einigermassen im Griff, dass nicht mehr allzu viel in der Umwelt landet. Als reiches Land mit einem funktionierenden System hat die Schweiz die Verantwortung, hier einen Beitrag zu leisten.»
Die weiteren Teile der Serie kannst du hier lesen:
Ich schreibe als freie Wissenschaftsjournalistin am liebsten vertiefte Geschichten rund um Gesundheit, Umwelt und Wissenschaft.